König meines Reiches

Paulo Coelho schreibt mit „Aleph“ Altbekanntes neu

Von Andreas HudelistRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hudelist

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Paulo Coelhos letztes Buch „Schutzengel“ führte die deutschsprachigen Leser an den Anfang seiner Schreibkarriere, da es die Übersetzung ins Deutsche so spät erfuhr. „Aleph“ bringt den Leser ebenso an den Beginn. Nicht jedoch, weil es so früh geschrieben wurde im Original 2011 erschienen –, sondern, weil es an die Thematiken der ersten Bücher anschließt. Dabei sind die verschiedenen Bücher mit dem Motto „folge deinen Zeichen“ verknüpft.

Im Fall von Aleph macht sich der erzählende Protagonist mit der transsibirischen Eisenbahn auf, um von Moskau bis nach Wladiwostok 9288 Kilometer hinter sich zu bringen. Die Bewegung ist dabei wichtig, da sich Coelhos Figur in der Heimat unzufrieden fühlt und in der Ferne nicht nur auf Abenteuer, sondern auch auf richtungsweisende Zeichen und damit verbundene Veränderungen hofft. Das bewusst gesetzte Ziel der Reise verwischt zwischen einer fatalistischen Grundhaltung, dass alles ohne eigene aktiv gesetzte Handlung passieren wird und der esoterischen Überzeugung, dass man gewissen Zeichen folgen muss, um glücklich zu werden – also selbst Verantwortung für das eigene Glück übernehmen kann. Für den Protagonisten bedeutet dies zu reisen, wobei Coelho damit eine gewisse Naivität und Kindlichkeit verbindet. Er schreibt: „Wie gut es ist, sich wieder wie ein Kind zu fühlen, zu spüren, wie das Blut in den Adern fließt und die Augen glänzen, begeistert vom Anblick eines Bahnsteigs voller Menschen zu sein, den Geruch nach Schmieröl und nach Essen einzuatmen und gleichzeitig das Quietschen der Bremsen ankommender Züge zu hören, das helle Summen der Gepäckwägelchen und das Signalhorn der Lokomotiven.“

Die Begeisterung hält in kindlicher Manier nicht lange an. Bereits nach der ersten Nacht werden die Reisenden müde, da kaum jemand in der unruhigen Nachtfahrt der Eisenbahn für längere Zeit die Augen schließen und in einen tiefen Schlaf fallen kann. Nur Hilal, die den Protagonisten bei einer Lesung vor der Abfahrt bereits kennen gelernt hat und die durch ihr Interesse für den Schriftsteller auffiel, schafft es, sich über Nacht auszuruhen und erntet damit die Ungunst der anderen Fahrgäste. Nach einiger Überwindung willigt der Ich-Erzähler ein, sich mit ihr länger zu unterhalten.

In diesem Moment soll sich Coelhos „Aleph“ auf Jorge Luís Borges Erzählung „Das Aleph“ beziehen: „Ich bin im Aleph, jenem Punkt, in dem sich alles zur selben Zeit an derselben Stelle befindet.“ Im Einführungszitat wird aus Borges Erzählung zitiert: „Jedes Ding […] war eine Unendlichkeit von Dingen, weil ich sie aus allen Ecken des Universums deutlich sah.“

Als Coelhos Protagonist mit Hilal über das Aleph spricht, wird die Wahrnehmung des Alephs als Glücksfall beschrieben. Zudem muss man frei von Gedanken und für den bestimmten Moment empfänglich sein. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen somit die Menschen, Gespräche und Erzählungen. Während der Zug an einigen Haltestellen den einen oder anderen Tag hält, können die Fahrgäste die Städte besuchen oder den Lesungen des Schriftstellers lauschen. Die Reise nach Wladiwostok steht jedoch für den laufenden Prozess, den alle Gäste durchmachen, sie verändern sich durch die Fahrt täglich. Halil ist für den Schriftsteller dabei von besonderer Wichtigkeit, da sie ihm in das Aleph verhelfen soll. Mit ihr gelangt er auch in Parallelleben oder vergangene Leben, in denen er verschiedene Rollen der gesellschaftlichen Dimension in Vergangenheit und Gegenwart ausübt.

Nach der Ankunft in Wladiwostok ist zu lesen: „Nein, nichts hat sich verändert. Nur wir, die wir ausgezogen sind, um nach unserem Reich zu suchen, und dabei Länder entdeckt haben, in denen wir noch nie gewesen waren – nur wir wissen, dass wir nicht mehr dieselben sind.“ Die Erfahrung, die durch das Reisen angesammelt wurde, bleibt schlussendlich denen, die nicht dabei waren, verborgen. Während die Distanz der zurückgelegten Reise allen gemein ist, 9288 Kilometer, sind die Erfahrungen der Fahrgäste verschieden. Ebenso sind die Motive, die zur Zugfahrt geführt haben, unterschiedlich. Der Schriftsteller resümiert nach der Ankunft in Wladiwostok: „Ich habe die Reise nicht unternommen, um die Worte zu finden, die in meinem Leben fehlen, sondern, um wieder König meines Reiches zu sein.“ Das heißt, nach der Reise wurde er wieder ruhiger und sein Hunger nach Reisen ist vorerst gestillt.

Coelho schreibt mit „Aleph“ ein Buch, das sich von seinen anderen Büchern weder in literarischer Weise noch vom Inhalt her abhebt. Vordergründlich wird eine Suche nach der eigenen Verwirklichung als eine Zugreise mit der transsibirischen Eisenbahn beschrieben. Die Menschen und Figuren sind aus dem Coelho’schen Kosmos nicht neu. So treten Hexen, magische Meister und Schamanen auf, um dem Protagonisten auf dem Weg zu seinem Ziel zu verhelfen. Dass das Ziel dabei Nebensache ist, versteht sich wie von selbst. Viel passiert nicht. Nach 300 Seiten Reise, Träume und Visionen ist der Coelho’sche Fan wahrscheinlich auf seine Kosten gekommen. Neue begeisterte Leser wird dieses Buch aber wohl kaum finden.

Titelbild

Paulo Coelho: Aleph. Roman.
Übersetzt aus dem Brasilianischen von Maralde Meyer-Minnemann.
Diogenes Verlag, Zürich 2012.
310 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783257068108

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