Bild einer Epoche

Über Fritz Peter Knapps „Grundlagen der europäischen Literatur des Mittelalters. Eine sozial-, kultur-, sprach-, ideen- und formgeschichtliche Einführung“

Von Jürgen WolfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Wolf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie der Klappentext verspricht, hat Fritz Peter Knapp hier ein „unverzichtbares Buch für alle, die mittelalterliche Texte umfassend verstehen wollen“, vorgelegt. Und tatsächlich sind nahezu alle Bereiche der mittelalterlichen Literatur und Kultur vom Gesellschaftsaufbau, der Weltanschauung, dem Weltwissen, Schrift und Buch, der Bildung, der mündlichen Dichtung, der Literatur, der Hof- und Ritterkultur bis hin zu den Literatursprachen sowie den theoretischen, poetischen und ästhetischen Fundamenten abgedeckt.

Vornehmlich auf Primärtexte – lateinische wie volkssprachige – aus ganz Europa gestützt, entwirft Knapp in bewusster Ergänzung, vielleicht sogar Abgrenzung zu den in der Regel immer primär nationalen (germanistischen, anglistischen, romanistischen, mediolatinistischen usw.) Einführungen ein ,komplettes‘ Modell des europäischen Mittelalters. Die Primärtexte (in neuhochdeutscher Übersetzung beziehungsweise zweisprachig) sind dabei so geschickt in den Gesamtzusammenhang eingebaut, dass die mittelalterlichen Autoren gleichsam in Eigenregie das Bild ihrer Epoche entwerfen und diskutieren dürfen. So konturieren Johannes de Sacrobosco, Honorius Augustodunensis und Dante das mittelalterliche Weltbild, offenbart der ‚Hortus deliciarum‘ die mittelalterliche Gesellschaftsordnung, denken beispielsweise Hrabanus Maurus und Hartmann von Aue im ‚Gregorius‘ über das Bildungswesen nach, diskutieren Chrétien de Troyes und Gottfried von Straßburg über die Wahrheit und in einem ‚Dukus Horant‘-Manuskript wird aus einer hebräischen Textzeile transliteriert plötzlich ein mittelhochdeutscher Spruch.

Natürlich kann bei gut 400 Seiten das entworfene Raster nur mehr oder weniger grob sein, auch wird man an einigen Stellen mit der Auswahl anderer Primärtexte vielleicht sogar zu gegensätzlichen Aussagen kommen, insgesamt erweist sich Knapps Darstellung jedoch als treffsicher, umfassend und vor allem: überaus anregend, und zwar selbst für Nicht-Mittelalterexperten. Gerade für das seit dem 19. Jahrhundert ganz von den Nationalphilologien geprägte Mittelalterverständnis erweist sich Knapps dezidiert gesamteuropäischer Blick geradezu als heilsam, zeigt er doch en passant eine grenzüberschreitende, flächendeckende Vernetzung, um die wir gerade heute vielleicht mehr denn je ringen. Im Mittelalter – zumal im Lateinischen – war sie Alltag. Ganz selbstverständlich eingeflochten in dieses Gesamte des europäischen Mittelalters sind übrigens auch die griechische, die jüdische und die arabische Kultur.

Neben der reichen Auswahl grundlegender Primärtexte besticht der Band durch zahlreiche qualitativ hochwertige Abbildungen, Karten, Grafiken und einen umfänglichen Hochglanztafelteil. Als einziges Manko wäre nur anzuführen, dass die zu jedem Abschnitt vorab genannten Überblickswerke wie überhaupt die herangezogene Sekundärliteratur nicht immer den allerneuesten Stand der Forschung widerspiegeln.

Titelbild

Fritz Peter Knapp: Grundlagen der europäischen Literatur des Mittelalters. Eine sozial-, kultur-, sprach-, ideen- und formgeschichtliche Einführung.
Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 2011.
429 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783201019361

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