Angenehme 2,7 Millirem
Ein Dosimeter-Dramolett: William T. Vollmann berichtet über eine Fahrt in die Sperrzone Fukushima
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer amerikanische Autor William T. Vollmann, der sich auch als Verfasser von Reportagen aus Krisengebieten einen Namen gemacht hat, reiste kurz nach den Ereignissen in Nordostjapan im März des Jahres 2011 nach Fukushima, um Eindrücke vor Ort zu sammeln. Sein Bericht über die Lage in der Region und über die Stimmung im Land erschien in der Originalversion unter dem Titel „Into The Forbidden Zone – A Trip Through Hell and High Water in Post-Earthquake Japan“. Als „Sperrzone Fukushima. Ein Bericht“ wurde der Text als erstes Werkstück der neuen Reihe „edition suhrkamp digital“ präsentiert. Mit den Beiträgen im Printformat und in einer E-Book-Version möchte der Verlag in „kürzeren Betrachtungen“ möglichst rasch auf gesellschaftliche Debatten und Entwicklungen reagieren.
Ein Journalistengeier mit Dosimeter
Gegen die Live-Begehung eines Unglücksorts gibt es immer den berechtigten Zweifel anzumelden, inwieweit es medienethisch zu vertreten ist, Momentaufnahmen und Stimmen von Betroffenen einzufangen, um den Wunsch nach Information auf Seiten der Öffentlichkeit zu befriedigen. Den Vorwurf des Voyeurismus kontert man mit dem Argument der Authentizität, und im Falle Fukushima stützt es die Position des Reporters sicher, dass er sich in der Nähe des havarierten Atomkraftwerks einiger Gefahr aussetzte. Zugutehalten wird man dem Berichterstatter Vollmann auch die selbstreflexive Haltung bei seiner Mission „Sperrzone“. Er beschreibt sich als „Journalistengeier“, der mit dem Dosimeter in der Hand und in der Gewissheit, bald wieder in seine Heimat Kalifornien zurückzukehren, darauf lauert, Bewohner der Zone befragen zu können. Die Achtung vor dem Gegenüber wäre dem bekennenden Kritiker des Atomaren dennoch zu attestieren, wobei das Urteil, es mit einem sehr sensiblen Beobachter zu tun zu haben, nicht zu vorschnell getroffen werden sollte.
Ein gewisses Problem des Beitrags, der sich durchaus gut liest, ist es, dass man das Szenario Fukushima aus journalistischer Perspektive schon zu sehr ausgereizt hat: Kennt man eine Vor-Ort-Reportage, kennt man alle. Da sind Schrott, Schmutz, zerstörte Landschaften, die unheimliche Unversehrtheit mancher verstrahlter Flächen, die oberflächliche Gefasstheit der Menschen, die dennoch wahrnehmbare Trauer um die erlittenen Verluste und die spürbare Fassungslosigkeit, wie all das hat geschehen können.
Unwissenheit, regionales Desinteresse und Zukunftsängste
Zoomt man sich einige Schicksale näher heran, ist von viel Verzweiflung, Verwirrung und Angst zu erfahren und von einem gewissen Unwillen, das wahre Ausmaß der Katastrophe im Hinblick auf die radioaktive Kontamination anzuerkennen. Der Verfasser der „Sperrzone“ betont mit seinen Zitaten der Unterhaltungen, die er geführt hat, wie wenig informiert die Japaner über die Gefahren der Atomkraft und die Wirkung der Radioaktivität offenbar sind. Schon die Kenntnisse über die Maßeinheiten Millisievert und Becquerel sind beschränkt, einigen scheint die Wirkweise des Radioaktiven völlig fremd, während andere nur mangelhaft Bescheid wissen und erst aus den Medien lernen, dass es schwere körperliche Schäden verursachen kann. Vollmann informiert sich vor der Reise, beschäftigt sich zusätzlich mit der Einheit Röntgen, denkt dann selbst jedoch in Rem und Millirem und klammert sich an sein Dosimeter. Die Maximaldosis, der er bereit wäre sich auszusetzen, sind 5 Rem. Einmal spricht er von „angenehmen 2,7 Millirem“, die das Gerät anzeigt und ihm damit die Sicherheit gibt, sein Kontingent auch in der Zone nicht allzu schnell zu erschöpfen. Am Ende seiner Fahrt meint er, mit einer relativ ungefährlichen Strahlenbelastung davongekommen zu sein.
Der Reporter arbeitet heraus, dass die Erfahrung von Hiroshima und Nagasaki, die er oft ins Gespräch bringt, im Bewusstsein der meisten Japaner kaum verankert zu sein scheint. Im Norden kümmerte man sich wohl nicht um den Süden, und die Menschen in Hiroshima hätten heute nur geringen Bezug zum Reaktorunfall in Fukushima. Was dem Land nach Fukushima bleibt, so zeigt Vollmanns „Sperrzone“, ist die sich in der Bevölkerung verbreitende Einsicht, dass die Regierung die Dinge nur mangelhaft im Griff hat, und eine mehr oder weniger ausgeprägte Zukunftsangst – wenn nicht Verdrängungsmechanismen die Überhand gewinnen und man die Radioaktivität zu leugnen beginnt.
Der brave japanische Bürger
Obwohl es langsam klar wird, dass „Fukushima“ ähnliche Dimensionen aufweist wie Tschernobyl, erklärt Vollmann, sein Taxifahrer denke von der Betreiberfirma des AKW, TEPCO, „Sie haben es für die Nation getan.“ Seiner Interpretation nach, die man zwischen den Zeilen lesen kann, gibt es viele, die gewillt sind, die Dinge hinzunehmen und die man deshalb als „Toren“ ansehen kann, „wie sie den Mächtigen auf der ganzen Welt so nützlich sind.“ Dass der Reporter meist auf Menschen trifft, die sich dergestalt schicksalsergeben zeigen, mag eben der Situation vor Ort geschuldet sein, in der die Traumatisierung differenziertere Gedankengänge der Involvierten verhindert. Durch die Darstellung Vollmanns entsteht der Eindruck, der Fatalismus dominiere das Inselreich, unterstrichen von weiteren Aussagen des risikofreudigen Fahrers wie: „Ich werde kooperieren soweit es geht, ich lebe sowieso nicht mehr lange.“ Sein reichlich stoisches Engagement tut auch ein Junge kund, der sagt: „Ich möchte Lebensmittel aus der Gegend essen, um den Bauern zu helfen.“ Stellenweise erwähnt der Autor die buddhistische Tradition Japans und deutet damit eine japanische Affinität zur Vergänglichkeit an.
„Oooch! Iiiih!“
Die mehrmals erwähnte Schicksalsergebenheit der Einwohner von Fukushima bildet in diesem Bericht den dramaturgischen Kontrapunkt zu Vollmanns Anliegen, die tragische Dimension des Desasters zu unterstreichen und zu betonen, wie machtlos der einzelne Bürger in Japan und in Amerika gegen den Bau von Atomkraftwerken ist. Übertriebene Exotisierung kann man dem Reporter nicht zur Last legen, wenn auch die Tatsache bestehen bleibt, dass man in der Fukushima-Debatte mit Augenzeugen-Interviews nicht weiter kommen wird. Gefragt wären Gespräche mit japanischen Spezialisten, mit Künstlern und Autoren, die die komplexeren Zusammenhänge erklären können und sich mit der Sache auf einer intellektuellen Ebene auseinandersetzen.
Vollmanns Reportage fördert für den Leser der deutschen Version vom November 2011 kaum eine neue Facette der Katastrophe zutage. Der Reporter weiß selbst, dass das Russisch-Roulette mit dem Dosimeter, das ein Leitthema der Reportage darstellt, nur begrenzt als Achse einer intensiven Erkundung des Themas „Fukushima“ belastbar ist. Dankbar nimmt man als Leser einige Szenen auf, die eine gewisse Situationskomik entfalten. Dies ist etwa der Fall, wenn der Taxifahrer angesichts von Schutthaufen am Straßenrand „Oooch! Iiiih!“ stöhnt, und auch die Dolmetscherin ängstlich „Iiiih!“ kreischt, als das Dosimeter auf die „angenehmen 2,7“ umspringt. Ein wenig Zweifel an Vollmanns interkultureller Sensibilität kommen auf, wenn er sich eingangs weigert, eine größere Summe in die sogenannten Erkenntlichkeitsumschläge für Befragte zu stecken, so dass die Dolmetscherin aus eigener Tasche aufstocken muss. Vollmann bleibt jedoch hart und diese Härte ist es vermutlich, die ihm die Wege ins japanische Krisengebiet geebnet und die Reportage ermöglicht hat.
Hinsichtlich der Frage, ob mit „Sperrzone Fukushima“ ein wichtiger Diskussionsbeitrag geschrieben wurde, bleiben, wie bereits erwähnt, einige Zweifel − ebenso dahingehend, dass Suhrkamp ganz auf die Dramatik eines Dosimeters setzt.
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