Baudelaire fraß Saubohnen

Ein surrealistisches Kochbuch von Joseph Delteil erscheint in deutscher Übersetzung

Von Malte VölkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Völk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der französische Erzähler Joseph Delteil ist hierzulande wenig bekannt, weshalb es nahe liegt, seine Verbundenheit zum Kreis der Surrealisten um André Breton zu erwähnen. Darin eher zu Anfang und am Rande involviert, schuf er in seinem eigenen Stil einer kraftvollen Derbheit durchaus erfolgreiche und beachtliche Werke, wie etwa den Roman „Jeanne D’Arc“ aus dem Jahr 1925. Sein Essay „La cuisine paléolithique“, im französischen Original zuerst 1964 erschienen, wird nun rund 35 Jahre nach dem Tod des Autors vom Verlag André Thiele in deutscher Übersetzung herausgebracht.

14 Rezepte, für jeden Wochentag zwei, ein Gericht für mittags, eines für den Abend. Bohnen spielen in dieser Küche, der cuisine brute, eine große Rolle, zudem Fleisch. Ob es sich jedoch bei diesem Essay über „Die paläolithische Küche“ um ein Kochbuch handelt, ist schwer zu entscheiden. Der kulinarische Großkritiker Jürgen Dollase behandelte es in der „F.A.Z.“ jedenfalls als ein solches – in seiner Kochbuchkolumne „Esspapier“ bemängelte er einige „küchentechnische Ungereimtheiten“, vergab aber immerhin einen „F.A.Z.-Stern“ (von drei möglichen). Vielleicht lassen sich diese Ungereimtheiten damit erklären, dass es in dem Essay eher um eine Einstellung zum Essen geht, welche die praktische Anwendung manchmal hintanstellt und die zudem gar nicht so einfach zu bestimmen ist. Zunächst und dem Anschein nach handelt es sich um eine Predigt, die gegen die verkommene Zivilisation wettert und das einfache Leben als Heilmittel empfiehlt. Was aber Delteil, anders als den meisten solcher Propheten im Dienst der Kargheit und Natürlichkeit völlig abgeht, ist die verdruckste Lustfeindlichkeit, ist der Hass auf die Verfeinerung in Genuss und Luxus. Auch den missionarischen Ernst, der hier offenbar einer spielerischen Sakralität weichen musste, sucht man vergebens. Das Landleben mit Verköstigung nach Art der Steinzeitmenschen scheint eine recht fröhliche Angelegenheit zu sein.

Die Behauptung von Roland Barthes, er könne selbst „aus einer Saubohne die Welt herauslesen“, steht für einen mikrologischen Blick, der bei Delteil geradezu umgekehrt wird: Er bringt die Welt in die Saubohne hinein, die Erfahrung des gelebten Lebens setzt sich in den einfachen Nahrungsmitteln ab, so dass diesen nichts mehr von der dumpfen Beschränktheit des Landlebens anhaftet. Die Erfahrung des urbanen Romanciers verbindet sich mit der Grobheit des Landes – eine intensive Sättigung mit Körperlichkeit ist die Folge. Der Geschmack von Sperma und Urin wird gerne evoziert, und: „mit diesem zärtlichen Spitznamen bedenken die Jungen meines Dorfes ihr jugendliches Glied: die Saubohne“.

Man kann Einfachheit hier mit Erfahrungsfähigkeit übersetzen. Die Verfeinerung des Genusses wird nur insoweit abgelehnt, wie sie eine Unfähigkeit zur Erfahrung verdeckt. Delteil propagiert eine Art Vorschule des Genusses, in der man erst einmal mit den einfachen Dingen anfängt, eine Beziehung zu den Nahrungsmitteln aufbaut, die auch mit Kenntnis einhergehen sollte („Pauke Deine Zoologie!“).

Der Gestus von Delteil, der in apodiktischen Setzungen erklärt, wie zu genießen sei, ähnelt auf amüsante Weise einer Figur aus dem „Zauberberg“ von Thomas Mann, nämlich Mynheer Peeperkorn, dem abgelebten Großbürger, der die stärkste Intensität seiner Exzesse schließlich in den einfachen Dingen findet und Hans Castorp erklärt: „junger Mann, – das Einfache! Das Heilige! Gut, Sie verstehen mich. Eine Flasche Wein, ein dampfendes Eiergericht, ein lauterer Korn, – erfüllen und genießen wir das erst einmal, erschöpfen wir es, tun wir ihm wahrhaft Genüge“.

Delteil behauptet zwar, eine Lehre der Mäßigung und Beschränkung zu predigen, die er aber selbst nur allzu deutlich hintertreibt. Eigentlich reichten ja drei verschiedene Gerichte überhaupt aus, mehr braucht man nicht. Wie in der Steinzeit, nur dass für die allermeisten der tatsächlich präsentierten Rezepte der Ackerbau und die Viehzucht dann doch eine notwendige Voraussetzung sein dürften. Hat man im Paläolithikum schon Trüffel-Omelette, Austern und Salzwiesenlamm verspeist? Offenbar war es so, wer wollte es bestreiten. Nebenbei wird erwähnt, dass Homo habilis und Co in jenen „einfältigen Zeiten“ auch schon mit anspruchsvoller Lektüre befasst waren, nämlich bevorzugt Charles Baudelaire gelesen haben. Wer sich schon immer gefragt hat, wie der oft propagierte natürliche Urzustand des Menschen eigentlich genau ausgesehen haben mag, ist nun informiert: Man schlürfte Austern, döste in der Sonne und las Baudelaire.

Der Ansatz von Delteil lässt sich in seiner Individualität mit aktuellen kulinarisch-ideologischen Trends kaum in Verbindung bringen. Als Fernsehkoch wäre er so wenig geeignet wie als Identifikationsfigur in einem Kochbuch für die ganze Familie. Nicht einmal für Tierschützer oder Naturfreunde gibt die cuisine brute etwas her, auch wenn es zunächst danach aussehen mag. Denn die Hinwendung zum ursprünglich-Naturhaften wird hier nicht als harmonisierte Befriedung der Naturbeherrschung gedacht. Eine friedliche Koeexistenz von Mensch und Tier kommt in dem Programm nicht vor. Zwar befällt den Verfasser beim Anblick von fröhlichen, unschuldigen Lämmchen auf dem Weg zum Schlachter eine gewisse „Melancholie“, die jedoch umstandslos zu einem wesentlichen Teil des Fleischgenusses erklärt wird. Und wie die Schnecken beim Geröstet-Werden „ihr knuspriges Lied singen“ – da fühlt man sich doch gleich in die Steinzeit zurückversetzt und möchte dem Rat, niemals weniger als 100 Schnecken zu essen (sonst lohnt es nicht), gerne folgen.

Beim Nachkochen der Gerichte sollte man jedoch Vorsicht walten lassen. Denn oft basieren die Rezepte auf der Verwendung von offenem Feuer und großen Kupferkesseln, was zumindest in urbanen Mietwohnungen schwierig werden dürfte. Das „Kaninchen nach Steinzeitart“ erfordert besonderes Fingerspitzengefühl: Man soll das möglichst fette Tier an einem Baum festbinden und dann den ganzen Wald in Brand setzen. Wenn sich das Feuer gelegt hat, ist das Karnickel gut durch und kann „ohne Salz“ gegessen werden.

Das schmale, liebevoll und aufwändig ausgestattete Büchlein begründet als erster Band die „Edition Essen & Denken“. Der Auftakt dieser originell betitelten Reihe ist hervorragend gelungen, so dass man auf die Fortsetzung gespannt sein darf.

Titelbild

Joseph Delteil: Die paläolithische Küche.
Übersetzung André Thiele.
Verlag André Thiele, Mainz 2011.
80 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783940884299

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