Die alte Monopoly-Frage

Über Spielgeld und richtige Vermögen

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Kennen Sie das auch beim Monopoly-Spiel? Da hat jemand Pech beim Würfeln gehabt, vielleicht unkonzentriert gespielt, musste nun schon „seine“ Badstrasse verkaufen und kann eigentlich nirgendwo mehr Miete zahlen. Spätestens beim nächsten Besuch der Schlossallee mit dem roten Hotel darauf ist er draußen. Also stellt sich die Frage: Geben wir ihm so viel Kredit, dass er weitermachen kann, schaut er zu oder hören wir ganz auf?

An diese Situation wird erinnert, wer die immerwährenden Diskussionen über „Kombilöhne“, „Bürgergeld“, „Beschäftigungsgutscheine“, „Bedingungsloses Grundeinkommen“ und ähnliche Ideen mit tollen Wortneuschöpfungen verfolgt. Im Kern geht es um die obige Monopoly-Frage: Unter welchen Bedingungen können wir es anstellen, dass auch jene Menschen weiter in unserer „sozialen“ Marktwirtschaft mitspielen, denen die dazu nötigen Kapitalien fehlen. Weil sie beispielsweise „zu alt“, „zu unqualifiziert“, „zu ungeschickt“, „zu krank“ sind.

Die Bundesrepublik Deutschland versteht sich als „demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Ihre Gesetzgebung stellt darum den Gebietskörperschaften die Aufgabe, alle deutschen Staatsangehörigen und darüber hinaus alle Menschen, die hier leben, so zu finanzieren, dass niemand verhungern, verdursten und erfrieren muss. Alle müssen eine elementare Bildung und eine lebenserhaltende medizinische Versorgung geboten bekommen, unabhängig davon, ob sie selbst einen finanziellen Beitrag durch ihre Steuern dazu leisten können oder nicht.

Seit Jahrzehnten wird immer deutlicher, dass der Anteil jener Menschen, die das nicht – überhaupt nicht, noch nicht, nicht mehr – können, zunehmend größer wird. Was also tun?

Allein die so genannten „gering Qualifizierten“ werden auf zwei Millionen Menschen geschätzt: Sie sind kaum auf einen Beruf vorbereitet und am derzeitigen Arbeitsmarkt nicht zu vermitteln. Die Bundeskanzlerin spricht das Problem an, wenn sie sagt, dass gerade diese Menschen „unglaubliche Schwierigkeiten haben, eine Beschäftigung, und zwar zu regulären Löhnen, zu finden.“

Allmählich dämmert es immer mehr Deutschen, dass die historische Entwicklung vom patriarchalen industriellen Eigentümer-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts über den „Fordismus“ des (frühen) 20. Jahrhunderts inzwischen zum entfesselten „Berater-Kapitalismus“ geführt hat. Kümmerte sich der (angeblich) so gemütliche „Rheinische Kapitalismus“ auch noch um die Fußkranken der „Sozialen Marktwirtschaft“, so ist für solche Sentimentalitäten in den rauen Zeiten des globalen Neoliberalismus kein Platz mehr.

Erneut denkt man an Monopoly: Wer sich die Miete weder auf den Straßen noch auf den Bahnhöfen noch auf dem Elektrizitäts- und Wasserwerk leisten kann, kann ja versuchen, immer wieder auf das Gemeinschaftsfeld zu gelangen – in der Hoffnung, den mit ein paar Hundert Euro dotierten 2. Preis bei einem Schönheitswettbewerb zu bekommen. Oder er geht ins Gefängnis, zumindest „zu Besuch“, zum Verschnaufen – ohne dass weitere Kosten anfallen.

Das gute alte Monopoly

Sie merken es: Vor kurzem spielte ich mit Freunden das gute, alte Monopoly, jenes Spiel also, dessen Ziel es ist, ein Grundstücksimperium aufzubauen und alle anderen Mitspieler in die Insolvenz zu treiben. Wir spielten eine Variante aus dem Jahr 1992, also eine noch mit DM-Beträgen und den vertrauten Straßen: Die Badstraße zu kaufen kostete 1.200 DM, die Schlossallee 8.000 Mark, die Mieten – ohne Haus und Hotel – rangierten von 40 Mark bis 1.000 Mark.

Der wirklich lesenswerte Eintrag in der Wikipedia informiert überaus gründlich über die Entstehung dieses anscheinend von Elizabeth Magie Philipps im Jahr 1904 entwickelten „The Landlord’s Game“ und über dessen Geschichte: Wussten Sie, dass die Stenotypistin „Lizzy“ Magie eine Anhängerin der sozialreformerischen Ideen von Henry George gewesen war, jenes bedeutenden politischen Ökonomen und entschiedenen Befürworter einer Einheitssteuer auf Land („single tax“) und Autor des 1879 erschienenen Bestsellers „Progress and Poverty“? Wussten Sie, dass Elizabeth Magie mit ihrem Spiel den Menschen die Erkenntnis nahebringen wollte, dass arbeitslose Einkünfte nur beim Grundbesitzer zu Reichtum führt und auf der Seite der Nichtbesitzer an Grund und Boden zu Armut und Verelendung führen? Wussten Sie, dass das Spiel 1936 in Deutschland angeblich verboten wurde, weil der Propagandaminister Joseph Goebbels verhindern wollte, dass seine eigene Wohnstraße in Berlin – „Insel Schwanenwerder“ – als die teuerste Straße in diesem Spiel mit seinem „jüdisch-spekulativen Charakter“ allgemein bekannt wurde? Wussten Sie, dass Monopoly angeblich in allen kommunistischen Ländern verboten war, auch in der DDR? Wussten Sie, dass die Zwickauer Neonazi-Zelle einige Zeit ihr Leben mit einer Monopoly-Version finanzierte, die „Pogromly“ hieß, und in der die Bahnhöfe die Namen von „Konzentrationslagern“ trugen?

Gerade wenn man es sehr lange nicht mehr gespielt hat, merkt man – heute deutlicher als früher – wie unrealistisch das Spiel eigentlich ist. Wann hätte denn jeder Spieler im realen Leben gleichermaßen ein gleichgroßes Startkapital von 30.000 DM bekommen? Wann hat es das denn gegeben, dass jeder nur mit einer Figur gehen kann? Wann würde man für ein aus finanzieller Notlage zurückzugebendes Haus von der Bank genauso viel bekommen, wie man dafür bezahlt hat?

Als am 20. Juni 1948 in den drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands die „Währungsreform“ in Kraft trat, erhielt jede natürliche Person ein „Kopfgeld“ von 40 DM und einen Monat später nochmals 20 DM ausgezahlt. Wer jedoch über Bargeld und Sparguthaben verfügte, konnte diese zum Kurs von 100 Reichsmark zu 6,50 DM umtauschen. Schon ab jenem Tag verfügten eben nicht alle über das gleichgroße Startkapital, weil einige mehr Reichsmark besaßen als andere, von Grundstücken und Häusern ganz zu schweigen.

Als im Jahr 1970 das „Begrüßungsgeld“ eingeführt wurde, bei dem jedem einreisenden Bürger der DDR – sowie der damaligen Volksrepublik Polen – der Betrag von anfangs 30 DM ausgehändigt wurde, der 1988 auf 100 DM erhöht wurde, soll es auch einige gegeben haben, die dieses neue Geld auf recht erfreuliche Vermögensbestände packen konnten, vor allem nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze am 9. November 1989. Als die Auszahlung am 29. Dezember 1989 eingestellt wurde, konnte jeder DDR-Bürger seine Mark-Bestände im Verhältnis 1:1 für die ersten 100 Mark und weitere 100 Mark im Verhältnis 1:5 in D-Mark umtauschen. Und wieder wird es einige gegeben haben, die mehr auf ihren Konten hatten als andere, von Grundstücken und Häusern ganz zu schweigen.

Nein, Monopoly gaukelt uns eine Ausgangssituation vor, die einfach unrealistisch ist. Deswegen spielen wir es ja auch so gerne: Jeder hat die Chance, Grundstücks-Tycoon zu werden, zumindest einen Abend lang.

Nur wer erbt, wird wirklich reich

Wie unrealistisch und naiv Monopoly ist, wird mir eigentlich erst in den letzten Jahren so richtig deutlich. Bis vor Kurzem wusste ich rein gar nichts von der Familie Reimann aus Mannheim. Und derzeit lese ich immer wieder von dieser Milliardärsfamilie, die sich gerade anschickt, den US-amerikanischen Kosmetikkonzern Avon zu kaufen. Eine deutsche Familie, deren Vermögen auf acht Milliarden Euro geschätzt wird, unternimmt derzeit vieles, um einen der weltweit bekanntesten Kosmetikkonzerne mit Firmensitz in New York zu übernehmen. Warum sie das tut, erschließt sich nicht ganz aus den Wirtschaftsnachrichten: Sollte es schlichte Gier sein?

Die Familie Reimann spielt jedenfalls schon recht lange und sehr erfolgreich Monopoly: Im Jahr 1823 hatte der Chemiker Adam Benckiser in Pforzheim eine Salmiakhütte gekauft. Im Jahr 1851 gründete sein Sohn, Johann Adam Benckiser, zusammen mit dem Chemiker Ludwig Reimann, eine Chemiefabrik in Ludwigshafen. Albert Reimann, Sohn von Ludwig Reimann, baute das Unternehmen erfolgreich aus, das Wein- und Zitronensäure sowie Phosphate herstellte. Nach kurzer Zeit kamen die Firmengründer mit der englischen Firma Reckitt & Sons in Kontakt, die ihnen Wäschestärke lieferte. In den 1950er-Jahren wurde in Ludwigshafen der Wasserenthärter „Calgon“ erfunden, in den 1960er-Jahren das Spülmittel „Calgonit“. Adam Reimann verstarb Anfang der 1980er-Jahre, sein Vermögen wurde an seine vier Adoptivkinder vererbt, die die Finanzholding Joh. A. Benckiser GmbH gründeten. In den 1990er-Jahren spaltete sich das Unternehmen auf: Zum einen gibt es weiter einen Wasch- und Reinigungsmittelkonzern, „Reckitt Benckiser“, zum anderen gibt es seit 1996 den Parfumhersteller „Coty“ mit Firmensitz in Mainz, der Marken wie „Davidoff“ und „Joop“ vertreibt.

In den Wirtschaftsnachrichten wird es zu lesen sein, ob Avon dem Übernahmeversuch von Coty standhalten kann oder nicht. Der US-Kosmetikkonzern steckt angeblich in einer Krise, die Familie Reimann hat Zeit, wie ihre 160 Jahre Firmengeschichte belegen. Wer schon die roten, gelben und grünen Straßen sein eigen nennt und Hotels drauf stehen hat, kann in aller Ruhe und Gelassenheit auf den Erwerb von Parkstrasse und Schlossallee warten.

Die Familie Reimann kam bei der letzten Ermittlung der „Champions League“ der deutschen Milliardäre, die das „manager magazin“ jährlich zusammengestellt, mit ihrem geschätzten Vermögen von „nur“ acht Milliarden auf Platz Sechs. Angeführt von den „Aldis“ – Karl Albrecht und die Söhne seines Bruders, Theo Albrecht – werden insgesamt 108 Einzelpersonen beziehungsweise Familien zum Club jener Deutschen gezählt, deren Vermögen mindestens eine Milliarde Euro beträgt. Eine Milliarde sind tausend Millionen, man schreibt das mit neun Nullen: 1.000.000.000 Euro.

Monopoly ist ein Kinderspiel, das jedem von uns, bei ausreichendem Würfelglück, eine Chance bietet. Der Zufall entscheidet über Glück oder Unglück, lediglich die Entscheidungen über Bebauungen und die Option, das Gefängnis gegen eine Geldbuße frühzeitig zu verlassen, bringen strategische Elemente ins Spiel ein. Freuen wir uns daran und lassen andere das „richtige“, globale Monopoly spielen. Wenigstens aufmerksam beobachten können wir sie jedoch, die Spiele der Familien Albrecht, Schwarz, Otto, Klatten, Reimann, Würth, Hertz, Oetker, Rethmann, Schmidt-Ruthenbeck, Flick und der vielen anderen „Big Players“.

Mal sehen, wo sie stehen, wenn im Oktober die aktualisierte Rangliste „Die 500 reichsten Deutschen“ veröffentlicht wird. Bei Monopoly jedenfalls übernimmt die Bank das Hab und Gut dessen, der seine Miete nicht mehr bezahlen kann und versteigert es an den Meistbietenden. Am 23. Januar 2012 stellte der Alleininhaber der Firma Schlecker, Anton Schlecker, beim Amtsgericht Ulm den Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. Mal schauen, was ihm und seiner Familie die nächsten Karten aus dem Ereignis- oder dem Gemeinschafts-Fach zeigen werden.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dirk Kaeslers monatlich erscheinenden „Abstimmungen mit der Welt“. https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=13303