„Ich habe keine Biografie…“

Peter Rüedis lang erwartetes Dürrenmatt-Buch beschreibt die Genese eines großen Werks und seines Autors

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) ist einer der ganz Großen seines – des 20. – Jahrhunderts. Die Fülle der Sekundärliteratur über den Mann und sein Werk ist bemerkenswert. Allein an einer exakt recherchierten, Werk, Autor und Zeit gleichermaßen gerecht werdenden Biografie hat es bislang gefehlt. Peter Rüedi hat sie nun vorgelegt. Zwanzig Jahre Arbeit stecken in den fast tausend Seiten. Und zwischen deren Zeilen werden vier Jahrzehnte einer beständig zunehmenden Vertrautheit zwischen dem Biografen und dem von ihm Porträtierten spürbar.

Noch Ende November 1990 besuchte Rüedi Dürrenmatt in dessen „autonome(r) Republik“, dem Vallon de l’Ermitage über Neuchâtel (Neuenburg) im französischsprachigen Teil der Schweiz. Der 70. Geburtstag des Schriftstellers – Dürrenmatt selbst sollte ihn nicht mehr erleben – stand bevor und Rüedi plante eine mehrteilige Serie über Leben und Werk des Autors für die Schweizer „Weltwoche“. Sie erschien in dreizehn Teilen in den Jahren 1990 und 1991 und stellt wohl so etwas wie die Urzelle der nun vorliegenden umfangreichen Biografie dar. Zumindest war dem Journalisten, Dramaturgen und Buchautor Rüedi damals bereits bewusst, dass eine Lebensbeschreibung des neben Max Frisch wichtigsten schweizerdeutschen Schriftstellers der Nachkriegszeit ein Forschungsdesiderat darstellte. Noch nicht wisssen konnte er allerdings, mit welchen Stoffmassen der Nachlass Dürrenmatts, der sich heute im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern befindet, den Biografen überraschen würde.

Ähnlich wie Julian Schütt vor einem guten Jahr in seiner Max-Frisch-Biografie („Max Frisch. Biographie eines Aufstiegs 1911-1954“, Suhrkamp, Berlin 2011) hat sich auch Peter Rüedi dazu entschlossen, den Weg eines Autors „bis zu dem Punkt, an dem ihn auch die Welt entdeckt“, zu verfolgen. Eine Halbbiografie, die „mit dem Stück[…], das seinen Weltruhm begründete“ – „Der Besuch der alten Dame“ von 1957 – abbricht, hat man deshalb trotzdem nicht vor sich. Denn ebenso wie Friedrich Dürrenmatt selbst in den beiden Bänden seiner „Stoffe“ keine intime Lebensbeschreibung vorlegte, sondern in der wechselvollen Geschichte der ihn bedrängenden Probleme und Stoffkomplexe den Nenner seines Daseins ausmachte, verlässt auch Peter Rüedi an etlichen Punkten seiner Arbeit den Zeitstrahl des Biografischen, um in thematischen Kapiteln zu Grundproblemen Stellung zu nehmen, die den „ganzen Dürrenmatt“ betreffen.

So werden in „Exkursen“ zur „erinnerte(n) Kindheit“, zum Labyrinth als philosophischem und literarischem Leitmotiv, zu Heimat und Sprache, zu Dürrenmatts Dramaturgie und ihrem Verhältnis zu den Prämissen des epischen Theaters Bertolt Brechts, zum Verhältnis des Autors zu den Naturwissenschaften und zum „Theater als andere(r) Lebensform“ rote Fäden identifiziert, die den ganzen Lebensteppich Dürrenmatts durchziehen, in gewisser Weise sogar zusammenhalten.

„Wenn ich nicht schreibe, bin ich gefährdet“ übersetzt Peter Rüedi einen Agendaeintrag Dürrenmatts aus den frühen 1950er-Jahren, der da lautete: „Wenn ich arbeite, bin ich unangreifbar.“ Angreifbar war der Verfasser der „Physiker“ dennoch, und zwar durch sich selbst. So steht einer erstaunlichen Lebenskontinuität – man vergleiche nur das alles in allem ruhige Leben der Familie in Neuenburg mit den ständig wechselnden Umständen in der Vita seines Mitbewerbers um den Schweizer Literatenthron Max Frisch, aus denen dieser dann freilich auch seine Themen und Motive bezog – das Scheitern und ständige Neuansetzen als ästhetisches Credo gegenüber. Gerade die bis zum heutigen Tag noch viel zu wenig beachteten „Stoffe“ dokumentieren auf eindrucksvolle Weise, wie Dürrenmatt mit den sein Schaffen dominierenden Themen und (Denk-)Gegenständen umging.

Dass aus dem einzigen Sohn des Konolfinger Pfarrers Reinhold Dürrenmatt und seiner Frau Hulda überhaupt ein Schriftsteller wurde, war nicht von Anfang an ausgemacht. Zu sehr war Friedrich Dürrenmatt zeichnerisch begabt, zu schwer wog das Interesse für die Philosophie, später auch die Naturwissenschaften, als dass da nicht andere Wege sich ebenfalls angeboten hätten. Hinzu kam ein komplizierter Loslösungsprozess von seinem Elternhaus, das ihn schon ganz früh mit dem Stoff- und Motivvorrat der Bibel und des klassischen griechischen Altertums vertraut gemacht hatte – ein Schatz, aus dem er sich bis zum Ende seines Lebens zu bedienen wusste –, ihm andererseits aber auch eine Religiosität vorlebte, die immer weniger die seine war. Hauptsächlich aber – so Rüedi – entstand aus dem zwiespältigen Gefühl des Schweizers, sowohl verschont als auch ausgeschlossen zu sein von den weltpolitischen Ereignissen der Kriegsjahre um das kleine Land herum, der Drang, „die Welt, die ich nicht zu erleben vermochte, wenigstens zu erdenken, der Welt Welten entgegenzusetzen“, wie es die „Stoffe“ später formulieren.

Friedrich Dürrenmatt selbst, und sein Biograf folgt ihm in diesem Punkte treu, datierte den Zeitpunkt seines Entschlusses, sich fortan hauptsächlich mit Schriftstellerei durchs Leben zu schlagen, auf seinen 24. Geburtstag, den 5. Januar 1945. Fortan lebt er ganz diesem Ziel und nicht zufällig fallen in die Zeit um sein 25. Lebensjahr herum noch zwei weitere wichtige „existentielle“ Entscheidungen: Dürrenmatt bricht sein Studium ab, so dass die geplante Promotionsschrift zur Rolle des Tragischen bei Kierkegaard, einem seiner lebenslangen Gewährsmänner, nicht mehr zustandekommt, und heiratet nach nur kurzer Bekanntschaft die Schauspielerin Lotti Geißler. Ein Jahrfünft später ist er bereits dreifacher Vater. „Ein Mann muss Ballast haben,[…], sonst kriegt er keinen Schwung“, argumentiert er diesbezüglich 1971 in einer aus Anlass seines 50. Geburtstages entstandenen Dokumentation des Schweizerischen Rundfunks. Das ist gewiss ein wenig zu salopp gesprochen, unterstreicht aber eindrucksvoll, mit welcher Entschlossenheit sich Dürrenmatt in ein Leben stürzte, von dem damals allenfalls zu ahnen war, auf welche Höhen des Ruhms es ihn binnen viereinhalb Jahrzehnten führen würde.

Alles in allem trägt Peter Rüedis monumentale Lebensbeschreibung einen Berg an Informationen über Leben und Werk eines der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts zusammen. Über einige Dinge erfährt der Leser dabei zu wenig – etwa über Dürrenmatt als Vater oder die Entwicklung des Verhältnisses zu seiner ersten Frau, deren Depressivität und späterer Alkoholismus nicht von ungefähr gekommen sein dürften –, andereres wiederum wird gar zu breit behandelt. Ärgerlich sind die vielen Redundanzen beim Zitieren aus den Quellen.

Noch ärgerlicher ist, dass, wer es gewohnt ist, die Anmerkungen mitzulesen, sich im gesamten vierten Kapitel mit der Tatsache konfrontiert sieht, dass die Zitate im Text nicht mit den Quellen übereinstimmen, die die Fußnoten für sie angeben. So muss, wer etwa zu wissen wünscht, welche Quelle sich hinter dem mit der Nummer 87 versehenen Zitat im Text verbirgt, im Anmerkungsteil die Nummer 89 konsultieren. Der dem Textteil angehängte, mehr als 200-seitige Apparat – enthaltend eine genaue Chronik zu Leben und Werk, den Anmerkungsteil, ein ausführliches Verzeichnis von Primär- wie Sekundärliteratur sowie ein Personen- und Werkregister – ist, bis auf die eben benannte Ausnahme, im Grunde aber so verlässlich wie nützlich. Der im Buch enthaltene Bildteil von 36 Fotodokumenten darf unter der Voraussetzung als ausreichend bezeichnet werden, dass, wer mehr sehen will, sich ja die nahezu zeitgleich erschienene, kiloschwere Bildbiografie „Friedrich Dürrenmatt. Sein Leben in Bildern“, herausgegeben von Anna Planta und anderen (Diogenes Verlag, Zürich 2011), danebenlegen kann.

Am 7. Januar 1947 hielt Friedrich Dürrenmatt im Rahmen eines Briefes an den Basler Literaturgeschichtler Walter Muschg – dessen „Tragische Literaturgeschichte“ ein Jahr später breiten Widerhall nicht nur in Fachkreisen finden sollte – fest: „Es mag an der Richtung meiner Bildung liegen, dass ich mit der neuesten Literatur keinen Kontakt habe. Sie ist mir fremd, und was ich gelesen habe, ist mir gleichgültig geblieben. Dies soll aber kein Werturteil sein, sondern nur eine Angabe der Position.“

Gewiss ist diese Aussage, begibt man sich nur ausdauernd genug auf die Spuren anderer Autoren – zeitgenössischer wie zu der Literaturhistorie zählender – in seinem Werk, kokett, vielleicht sogar der Verschleierung von Zusammenhängen geschuldet, die dem jungen, gerade seine Position unter den Schriftstellern seiner Zeit suchenden Dürrenmatt nur allzu bewusst waren. Heute Schreibende sollten sich deshalb von diesen apodiktischen Sätzen nicht verleiten lassen, das monumentale Werk dieses Mannes fortan zu meiden. Für Lesende gilt dasselbe. Peter Rüedis Biografie trägt das ihre dazu bei, die Bastion Dürrenmatt innerhalb der Festung der Literatur des 20 Jahrhunderts zu stärken. Noch mehr von ihr zu verlangen, wäre gewiss unbillig.

Titelbild

Peter Rüedi: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen. Biographie.
Diogenes Verlag, Zürich 2011.
960 Seiten, 28,90 EUR.
ISBN-13: 9783257067972

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