Consolencowboys
Jiré Emine Gözen geht literarischen Fiktionen im Cyberpunk unter medientheoretischen Aspekten nach
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWilliam Gibson zählt auch 30 Jahre nach seiner kreativsten Zeit noch immer zu den bekanntesten zeitgenössischen SF-Autoren, schließlich ist sein Name untrennbar mit dem düsteren Jungbrunnen verknüpft, in den der Cyberpunk das Genre um 1980 tauchte.
Eine umfassende Untersuchung dieses Subgenres stand – zumindest im deutschen Sprachraum – bislang aus. Dem hat Jiré Emine Gözen mit ihrer unter dem schlichten Titel „Cyberpunk Science Fiction“ veröffentlichten Dissertation nun Abhilfe geschaffen.
Wie die Autorin in der Einleitung darlegt, gilt ihr vorrangiges Interesse der „Entstehung, Entwicklung“ sowie „bestimmten Paradigmen“ der „ebenso einflussreichen wie kurzlebigen literarischen Strömung“, deren Bezeichnung auf Bruce Bethke zurückgeht, der den Begriff Cyberpunk“ prägte und als Titel für eine SF-Story nutzte. Das neue Genre, zu dessen „Kernthemen“ die „Verschmelzung von Mensch und Maschine“ zählte, gewann die Aufmerksamkeit des Publikums vor allem mit seiner „kritischen Reflexion über die zunehmende Technisierung der Gesellschaft und deren Einfluss auf das Individuum“.
Da die „Avantgardebewegung“ Cyberpunk ihre an die „konventionellen Science Fiction“ gerichteten Forderungen in den eigenen Werken umzusetzen pflegte, analysiert die Autorin das Genre zunächst auf „inhaltliche, ästhetische, gesellschaftliche und auch theoretische Implikationen“ hin und vergleicht sie anschließend mit denjenigen der zeitgenössischen und gegenwärtigen Mainstream-SF.
Gözens zentraler These zufolge unterscheiden sich „klassische Science Fiction“ und Cyberpunk sowohl in Stil und Inhalt als auch hinsichtlich ihrer „Wertvorstellungen“ ganz grundsätzlich. Die obsolet gewordene „humanistische Weltsicht“ ersterer sei im literarischen Cyberpunk von „ahumanistischen und im weitesten Sinne postmodernen Sinnfindungsmustern“ verdrängt worden.
Bevor sie diese These allerdings entfaltet, bietet sie einen Abriss der (englischsprachigen) SF-Historie, wobei sie insbesondere die Geschichte des Cyberpunk nicht nur anhand der einschlägigen Werke nachzeichnet, sondern auch anhand der gemeinsamen Geschichte seiner namhaftesten Autoren, bei denen es sich tatsächlich ausnahmslos um Männer handelt. So hat das Genre in John Shirley denn auch einen „Urvater“, doch erweist sich das arme Kind nicht nur als männliche Kopfgeburt, es musste zudem völlig mutterlos durch seine kurzes Leben gehen. Vielleicht darum hat es kaum das schulfähige Alter erreicht. Auch erstaunt es angesichts dessen wenig, dass die den Cyberpunk bevölkernden „Consolencowboys“ nicht selten an das Personal von Italo-Western erinnern.
Neben „Urvater“ Shirley und „Cyberpunk-Virtuose“ Gibson bildeten Bruce Sterling und Lewis Shiner das als Movement-Gruppe in die SF-Geschichte eingegangene literarische Quartet der Cyberpunk-Genesis, wobei zum Erfolg des neuen Genres nicht zuletzt das von Sterling herausgegebene Fanzine „Cheap Truth“ beitrug. Über die genannte Gruppe hinaus rechnet Gözen dem Genre überhaupt nur einen sehr begrenzten Personenkreis zu, wie ihre 17 Werke umfassende „Bestandsaufname der ersten Cyberpunkwerke“ zeigt, in der mit Pat Cadigans „Bewußtseinsspiele“ nur ein einziges Werk von einer Autorin vertreten ist.
Gözens Durchgang durch die Texte folgt einer ausgesprochen stereotypen Gliederung, die Regelmäßig mit der „Entstehung“ des infrage stehenden Werkes beginnt, sodann dessen „Cyberpunk-Elemente“ beleuchtet, auf die „Welt/Umwelt“ eingeht, den „Protagonisten“ vorstellt sowie schließlich „Inhalt“ und „Form“ erörtert, wobei ein besonderes Augenmerk dem „diskursiven Inhalt“ gilt.
In ihrer Analyse der medientheoretischen Bezüge des Cyberpunkt, vertritt Gözen die These, dass in den „Weltentwürfe“ des Genres eine „künstlerische Verarbeitung von Medien- und Gesellschaftstheorien“ auszumachen sei. Als „Denker“, deren Einfluss auf die Cyberpunk-Literatur am deutlichsten hervortritt“, nennt die Autorin Marshall McLuhan und Jean Baudrillard. Allerdings habe der Cyberpunk den Medientheorien der Genannten sogar noch einiges voraus. Baudrillard entwerfe etwa ein „Bild der Zukunft“, das nichts weiter als eine „recht unspezifische apokalyptische Vision der westlichen Zivilisation“ böte, die von einem „eher negativen Blick auf Technologien geprägt“ sei. Sei die „postmoderne Welt“ von Baudrillard „glatt, rational und ohne Überraschungen“, so seien die „Universen“ des Cyberpunk „mysteriös“, „lebendig“ und „voller Bedrohungen“.
Überhaupt findet die Autorin reichlich lobende Worte für das von ihr untersuchte Genre, an dem ihr nur sehr wenig kritikwürdig zu sein schein. Als Negativfolie, vor welcher der Cyberpunk glänzen kann, muss die mal als „traditionell“ mal als „klassisch“ apostrophierte Science Fiction herhalten, die sich darauf beschränke, „technologische Neuerungen möglichst plausibel zu beschreiben“, ohne allerdings „die entworfenen Zukünfte von aktuellen sozialen oder ökonomischen Entwicklungen herzuleiten“. Der Cyberpunk greife hingegen „aktuelle gesellschaftliche Tendenzen auf, um sie weiterzuverarbeiten“. Doch noch in weiteren Hinsichten sei der Cyberpunk „grundlegend anders“ als die klassische Science Fiction, wie die Autorin über etliche Seiten hinweg darlegt. Und immer hat der Cyberpunk das bessere Ende für sich. Gleichgültig, ob es den Inhalt, den „literarischen Stil“, die „sprachliche Ebene“ die Entwicklung der Charaktere oder die Entwürfe der fiktiven Welten betrifft. So kann die Autorin gar nicht oft genug betonen, dass es ich „bei den Erzählungen der Cyberpunk-Autoren „fast immer um sprachlich, stilistisch und strukturell sehr anspruchsvolle Texte“ handle, die „mit ihrem durchkomponierten Potpourri verschiedener Stile und Erzählweisen sehr poetisch“ seien.
Letztlich aber mag sie doch nicht allzu laut jubeln. Denn die Cyberpunk-Bewegung habe zwar „zu einer deutlich wahrnehmbaren Modernisierung der Science Fiction geführt“, doch sei diese „bis auf wenige Ausnahmen“ nicht über inhaltlichen Motive hinausgegangen. Das habe in der Post-Cyberpunk-Ära zu einer „nachhaltige Verwässerung der eigentlichen Cyberpunk-Intentionen“ geführt.
Auch wenn Gözen manchmal etwas gedämpftere Töne hätte anschlagen können, gar so verkehrt ist das alles nicht.