Ein Roman in Begriffen

Über „Der Implex“ von Barbara Kirchner und Dietmar Dath

Von Georg FülberthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Fülberth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Untertitel des Buches „Der Implex“ von Barbara Kirchner und Dietmar Dath heißt „Sozialer Fortschritt. Begriff und Geschichte“, handelt also von Gesellschaftlichem“. Bevor Soziologen, Politologen, Philosophen, Ökonomen und Historiker sich damit befassen, sollten sie eine Warnung zur Kenntnis nehmen, die gleich im ersten Satz steht. Sie lautet:„Dieses Buch ist keine wissenschaftliche Monographie, kein Manifest, keine philosophische Abhandlung.“ Das verwundert zunächst. In dem Band wird über 835 Seiten Text hin über Gesellschaft, Politik, Kunst, Philosophie räsoniert. Hinzu kommen Anmerkungen, Literaturverzeichnis und Register, macht insgesamt 878 Seiten. Spezialistinnen und Spezialisten verschiedener Disziplinen können sich herausgefordert fühlen und werden sich anschließend darüber beklagen, dass ihre Zunftregeln nicht eingehalten werden.

„Der Implex“, so lesen wir in der Vorbemerkung dieses Buches weiter, sei „eine Art Roman in Begriffen“. Jetzt werden die Germanisten und andere Literaturwissenschaftler nervös. Was ein Roman ist, das meinen sie denn doch zu wissen. Dazu gehören entweder – konventionell – mindestens ein Plot und ausgearbeitete Charaktere oder die vielfältigen neuen Formen, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Der opulente Erzählroman des 19. Jahrhunderts ist nicht tot, er wird immer wieder neu geschrieben. Zugleich wurde er aufgesprengt: irgendwo finden sich in dieser Geschichte seiner Hybridformen James Joyce, Arno Schmidt und der Nouveau Roman – wo das einmal enden wird, wissen wir nicht. Dass sie erzählen können, haben Barbara Kirchner und Dietmar Dath in ihren früheren Romanen gezeigt. Aber jetzt findet ein Wechsel des Genres innerhalb des Genres statt: Statt Personen bewegen sie Begriffe, an die Stelle der Handlung treten Argumentationsabläufe, deren Verzweigungen, Widerreden und deren Überwindung. Wer sich darauf einlässt, erlebt einen Abenteuer- und Poproman in Begriffen.

„Der Implex“ ist das Protokoll eines Gedankenexperiments, unternommen von zwei Intellektuellen mit Doppel-Leben. Barbara Kirchner ist Professorin für Theoretische Chemie an der Universität Leipzig und Schriftstellerin. Dietmar Dath hat zahlreiche Romane vorgelegt, einer von ihnen landete 2008 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Dath war Chefredakteur von „Spex“, danach Feuilleton-Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland“, dann Freier Mitarbeiter beim Suhrkamp Verlag, jetzt ist er wieder im Feuilleton der F.A.Z.

Das Gedankenexperiment von Barbara Kirchner und Dietmar Dath besteht in der Evaluation von Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Aufklärung in praktischer Absicht. Letztere heißt sozialer Fortschritt, und dessen Ziel wird so benannt: „Auskommen, Freiheit, Mitsprache“ – ein Programm, dem kaum jemand widersprechen wird. Es fehlt der heiße Atem einer Parole aus dem Manifest der Kommunistischen Partei von 1848: „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“, oder auch die noch ältere Losung: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“.

Woher dieser Unterschied der Tonlage? Es gibt offenbar zwei Gründe.

Erstens: Barbara Kirchner und Dietmar Dath haben eine Gemeinsamkeit zwischen ihren Unterschieden gesucht. Sie beschreiben sich selbst so: „Einer der beiden Köpfe, die sich das Buch zusammen ausgedacht haben, wäre nicht beleidigt, wenn man ihn einen sozialdemokratischen Kopf nennen würde. Der andere bevorzugt jüngere und verrufenere Namen. Da diese beiden nun aber herausfinden durften, dass sie einander näher sind, als sie dachten, und sich beispielsweise herausstellte, dass das, was der sozialdemokratische der beiden Köpfe unter Sozialdemokratie versteht, jedenfalls wenig mit dem zu tun hat, was die SPD tut und will, ist das Bündnis während der Arbeit nicht zerbrochen, sondern gefestigt worden.“

Zweitens: Barbara Kirchner und Dietmar Dath, beide Jahrgang 1970, verstehen sich als ideologische ‚Trümmerfrauen‘. Sie müssen noch einmal da anfangen, wo andere – die 1789er, die 1917er und die ‘68er – gescheitert sind. Die einzelnen Steine aus dem Schutt bergen, sie abklopfen, säubern, neu setzen: das ist das, was die Autorin und der Autor die Arbeit am Implex nennen – Evaluation zwecks Weiterverwendung und nicht Verwerfung, letztlich: Re-Valuation.

2001 veröffentlichte Barbara Kirchner den Roman „Die verbesserte Frau“ und 2002 zusammen mit Dietmar Dath „Schwester Mitternacht“ – einen Thriller mit Science Fiction. 2008 hat Dietmar Dath das Programm politisiert – in seiner Streitschrift „Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus“. Das Wirkliche mit seinen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten heißt dort: Kapitalismus. Der letzte Satz lautet: „Die Menschen müssen ihre Maschinen befreien, damit die sich revanchieren können.“ Was dabei herauskommen kann, wenn dies nicht geschieht, lesen wir in seinem Roman „Die Abschaffung der Arten“, ebenfalls 2008, inzwischen auch ins Englische übersetzt. Es ist die Dystopie einer transhumanen Gesellschaft. Mit dem „Implex“ versuchen sich Barbara Kirchner und Dietmar Dath des Begriffsgerüsts zu vergewissern, das nicht nur eine Poesie, sondern auch eine Politik trägt.

Sie quittieren ohne Wimperzucken den Einbruch der beiden großen Erzählungen des 19. und 20. Jahrhunderts – Liberalismus und Sozialismus in ihrer damaligen Gestalt – und widmen sich stattdessen dem Kern, der bleiben müsse: das sind Möglichkeiten, die entgegen landläufiger Resignation nicht geringer werden, sondern reicher. Diese Fülle nennen Kirchner/Dath mit einem Begriff unter anderem aus der Mathematik: Freiheitsgrade. Sie sind nicht zu verwechseln mit Freiheit, sondern lediglich durch Vernunft und bewusstes Handeln beeinflussbare Wahrscheinlichkeiten. Determinismus findet man in diesem Buch nirgends. Varianten des Marxismus, die damit rechnen, werden in diesem Text immer wieder kritisiert. Laut Barbara Kirchner und Dietmar Dath sind die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft nicht eine Art Gefangenen-Dilemma mit Zusammenbruchs-Perspektive, sondern der Gegensatz zwischen dem, wie diese bürgerliche Gesellschaft ist, und dem, was nach ihr – im Guten und im Bösen – kommen kann und in ihr schon angelegt, also ihr implizit ist. Wenn im Untertitel des Buches von Geschichte die Rede ist, dann immer in diesen ihren drei Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von denen die Zukunft die wichtigste sei.

„Der Implex“ könnte zu den Voraussetzungen künftiger Romane nach dem Muster der „Abschaffung der Arten“ werden. Trotz seines Umfangs ist das Buch wie eine Abbreviatur, die ihrerseits wieder aus einer Fülle von Abbreviaturen besteht. Wer sie entschlüsselt, wer Sätze entrenkt, die sich mit ihren Klammeren, Appositionen, Parataxen und Hypotaxen manchmal über eineinhalb Seiten erstrecken, kommt sich spätestens auf Seite 835 durchgeschüttelt vor. Man hat dann etwas andere Denkgewohnheiten als vorher, denkt Freiheit als Teil eines Komplexes, in dem sie erst hervortritt aufgrund ihrer ihr entgegengesetzten Voraussetzung, Knechtschaft. Man ist, zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit Sexismus, Rassismus und kultureller Dumpfbackigkeit, darüber belehrt, wie teilemanzipierte Individuen, Klassen, Geschlechter und Gruppen auf die Nichtemanzipation anderer so lange zwanghaft Wert legen zu müssen meinen, wie sie eben nur Teilfreie sind.

Zu den amüsantesten Effekten des Buchs gehören einige Missverständnisse, die es in den Feuilletons ausgelöst hat. In der „Zeit“ hielt Alexander Cammann Barbara Kirchner und Dietmar Dath vor, sie rennten wie trotzige Kinder gegen den Kapitalismus an. Das tun sie aber gerade nicht. So weit es sich um Kapitalismus-Kritik handelt, geschieht sie in der eher altmodischen Art der Erforschung von Möglichkeiten, Grenzen, etwaigen Überschreitungen – Kapitalismus seinerseits als ein Produkt der Aufklärung. Es wird gefragt, was man damit anfangen konnte, was geht und was nicht und was man stattdessen machen kann. Kapitalismus ist selbst ein Implex.

Was die überbordende Form des Buches angeht, so verleidet sich jeden Spaß, wer es – trotz der Warnung in seinem ersten Satz – als Abhandlung liest und nicht als einen Roman in Begriffen. Als Dietrich Kuhlbrodt den „Implex“ zu lesen begann, fühlte er sich (so erzählt er in der Online-Ausgabe der taz in einem Bericht über eine Vorstellung des Buchs im Literaturforum des Brecht-Hauses in Berlin) in die Zeit seiner Lektüre der „Ästhetik des Widerstands“ zurückversetzt. Vor einer Generation gab es dafür Lesezirkel. Heute wäre das zu betulich. Vielleicht wäre das Netz das richtige Forum, etwa durch eine „Implex“-Plattform. Hier könnte das Buch analysiert, korrigiert, in Einzelheiten widerlegt und weitergeschrieben werden. Sollte es, von da ausgehend, eines Tages sogar zu einer Implex-Partei kommen, hätte sich die Idee von ihrer Urheberin und ihrem Urheber emanzipiert. Etwas Besseres kann Leuten, die Vernünftiges in die Welt setzen, nicht passieren.

Titelbild

Dietmar Dath / Barbara Kirchner: Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
880 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422649

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