Ereignisse kennen keine Dogmen

Die faszinierende Raum-Zeit-Verschränkung „Chronotopos“ des russischen Philologen und Philosophen Michail M. Bachtin ist wieder erhältlich

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michail M. Bachtin (1895-1975) hat unter außergewöhnlichen Umständen ein international anerkanntes wissenschaftliches Werk geschaffen. Obwohl in der Sowjetunion der überwiegende Teil seiner Schriften über Jahrzehnte hinweg nicht erscheinen konnte, haben sich seine Arbeiten ihren Weg zum Publikum gebahnt. Kaum ein Wissenschaftler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfügt über eine derartige Resonanz wie Michail Bachtin.

Bereits in den späten 1910er-Jahren hat Bachtin junge Gelehrte um sich versammelt und Vorträge gehalten. Sein 1919 erschienener Artikel „Kunst und Verantwortung“ kündigt geradezu programmatisch seine lebenslange Beschäftigung an. Ende 1928 wurde Bachtin, der an einer chronischen Knochenmarkentzündung litt, verhaftet und zu fünf Jahren Lager verurteilt. Dank der Fürsprache von einflussreichen Freunden wurde das Urteil in eine Verbannung in die Weiten der russischen Provinz umgewandelt. Die späteren Jahre arbeitet Bachtin als Lehrer, ab dem Jahr 1945 konnte er als Literaturwissenschaftler in Saransk unterrichten.

Von allen künstlerischen Texten favorisierte Bachtin eindeutig den Roman, um kultursemiotische Konstellationen aufzuspüren. Seine Untersuchung „Probleme des Schaffens von Dostojevskij“ hatte er 1929 noch in der Sowjetunion veröffentlichen können – es sollte für drei Jahrzehnte seine letzte Veröffentlichung sein.

Neben der „Polyphonie“, der dialogischen Vielstimmigkeit, die Bachtin in Dostojewskijs Romanen analysiert, wird hier auch die philologische Diskussion von „Autorschaft“ und „Text“ durch eine völlig neue Art des künstlerischen Denkens angeregt. Weltweit bekannt gewordene Schlüsselkategorien der Bachtin’schen Forschungen wie „Karnevalisierung“, „Redevielfalt“, „Chronotopos“ oder „Polyphonie“ sind letztlich immer in der Herausforderung von Dialogizität eingebettet. Bachtins Grundgedanke einer Dialogizität ist zutiefst von einer unabgeschlossenen Dynamik durchdrungen. Die Dinge sind im Fluss, können sich ändern und ziehen somit die sie umgebende Gesamtkonstellation in die Veränderung hinein.

Der von Bachtin in der Literaturwissenschaft eingeführte Begriff „Chronotopos“ untersucht die Raum-Zeitverschränkung in literarischen Texten. „Krisen“, „Schwellen“ oder „Wendepunkte des Lebens“ sind gängige Chronotopoi, die in offener Form oder aber auf implizite Weise auftreten – Bachtin verweist hier auf „benachbarte Chronotopoi der Treppe, des Vorzimmers und des Korridors wie auch deren Fortsetzungen, die Chronotopoi der Straße und des Platzes – die Orte, an denen es zu Krisen kommt, zum Fiasko und zur Auferstehung, zur Erneuerung, an denen Menschen sehend werden und Entschlüsse fassen, die ihr ganzes Leben bestimmen“.

Die Schrift „Chronotopos“, die in den 1930er-Jahren entstanden und in den 1970er-Jahren ergänzt und fertiggestellt wurde, stellt kein umfassendes oder gar geschlossenes System dar. Vielmehr belegt Bachtin in einzelnen historisch abgegrenzten Etappen wie etwa dem „griechischen Roman“, dem „Ritterroman“ oder in den „Funktionen des Schelms, des Narren und des Tölpels im Roman“ die konkreten ästhetischen Folgen des jeweils inszenierten Chronotopos. In der künstlerischen Gestaltung kann die Zeit gedehnt oder verkürzt werden, können konkrete Orte eine „offene Ereignishaftigkeit“ annehmen. In faszinierender Weise entfaltet Bachtin hier die Entwicklung des Sujets in Romanen, die von unterschiedlichen Weltbildern, wie etwa jenem der Antike beeinflusst waren. Er zeigt die Entwicklungen auf, die sich in der künstlerischen Inszenierung der Zeit-Räumlichen Verschränkung finden und ihnen ihr spezifisches Gepräge geben.

Es ist dem Suhrkamp Verlag zu danken, dass er langjährigen und erfahrenen Bachtin-Forschern aus der alten Bundesrepublik sowie der ehemaligen DDR die Gelegenheit ermöglichte, neue und vorzüglich aufbereitete Ausgaben vorzulegen.

Bemerkenswert an Bachtins Schriften ist ihre außerordentliche Aufgeschlossenheit gegenüber Fragestellungen im Bereich der Handlungstheorie sowie der Philosophie. Gesellschafts- und kulturphilosophische Denksysteme lassen sich somit dialogisch dekonstruieren. Vor dem Hintergrund der Herausforderungen weltanschaulicher Monologe enthalten Bachtins Überlegungen daher auch immer einen eminent politischen Charakter. Bachtins Texte sind zuweilen unsystematisch und skizzenhaft, aber zutiefst dem Leben zugewandt. Nicht zuletzt von daher lassen sich deren Vitalität und Überzeugungskraft erklären.

Titelbild

Michail M. Bachtin: Chronotopos.
Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Michael Dewey, Harro Lucht und Rolf Gröben.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
200 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783518294796

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