Netzwerkerinnen und Multitalente

Der Ausstellungskatalog „Die andere Seite des Mondes. Künstlerinnen der Avantgarde“ gibt faszinierende Einblicke in Leben und Werk von acht Künstlerinnnen der Zwischenkriegszeit

Von Isabel FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Isabel Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Frauenbeine wachsen aus einer Muschel und überqueren mit Leichtigkeit eine fragmentarische Landschaft aus Papierschnipseln, lassen Häuser und festen Boden hinter sich. Dieses Bild – „Siebenmeilenstiefel“ von Hannah Höch –, das das Cover des Ausstellungskataloges „Die andere Seite des Mondes“ schmückt, ist paradigmatisch für die Arbeitsweise der im Katalog vorgestellten Künstlerinnen. Sie überqueren die Ländergrenzen, schaffen Verbindungen in mehreren Metropolen, agieren mit verschiedenen Materialien, oft auch fragmentarisch, und sind doch zumeist Einzelgängerinnen ohne festes Territorium. Nirgends wirklich zugehörig, verbinden sie Gegensätze wie Praxis und Theorie, Handwerk und Kunst sowie die verschiedenen Künste.

Der Katalog zu der vom 22.10.2011 bis 15.01.2012 in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf gezeigten Ausstellung nähert sich dem Phänomen der Avantgardebewegungen der 1920er- und 1930er-Jahre, dieser Zeit der gesellschaftlichen und künstlerischen Umbrüche, von einer bislang wenig beachteten Seite: derjenigen der weiblichen Akteure. Denn obwohl sich innerhalb der Avantgardegeschichtsschreibung die männlichen Kollegen diskursiv durchgesetzt haben und man nicht zuletzt das Bild der kriegerischen Vorhut, das der Begriff Avantgarde impliziert, kaum mit Künstlerinnen in Verbindung gebracht hat, existierte sie: die weibliche Avantgarde.

Der Katalog zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass die Künstlerinnen maßgeblich an den ästhetischen Erneuerungsversuchen der europäischen Avantgardebewegungen beteiligt waren. Die Aufsätze zu verschiedenen Künstlerinnen aus Dadaismus, Surrealismus und Konstruktivismus gehen ihrem Leben und Werk vor allem hinsichtlich ihrer Eingebundenheit in die internationalen künstlerischen Netzwerke nach. Beachtlich erscheint dabei nicht nur ihre Involviertheit in diese Kreise, sondern vor allem, dass sie oftmals sogar Initiatorinnen solcher Netzwerke waren.

Die Auswahl umfasst ein breites Spektrum künstlerischen Schaffens: Die im Ausstellungskatalog präsentierten Künstlerinnen gehörten nicht nur unterschiedlichen Kunstströmungen und Stilen an, sondern haben im Laufe ihrer Schaffenszeit diese auch immer wieder gewechselt und neu miteinander verbunden. So vielfältig die Kunstströmungen, so vielschichtig sind auch die künstlerischen Mittel. Die Katalogbeiträge zeigen, wie sich die Avantgardistinnen mit Malerei, Fotografie, Collage, Plastik, Design und Film auseinandergesetzt haben und dabei zumeist mit mehreren Gattungen und Medien experimentierten. Es wird deutlich, dass gerade diese Flexibilität den Reiz der hier präsentierten künstlerischen Werke ausmacht. Den Aufsätzen kommt der Verdienst zu, die flüchtige, schwer zu kategorisierende Arbeitsweise der Künstlerinnen gerade im Hinblick auf ihre Offenheit und Wandlungsfähigkeit zu präsentieren.

In den Beiträgen am stärksten vertreten ist Sophie Taeuber Arp (1889-1943), die im „Cabaret Voltaire“ den surrealistischen Tanz einführte und später zur Etablierung der Konkreten Kunst beitrug. Obwohl sie zu ihrer Zeit eine bekannte Künstlerin und wichtiges Bindeglied zwischen der Dada-Bewegung und der geometrischen Kunst war, wurde sie bisher in der Forschung wenig beachtet oder aber nur in Zusammenhang mit ihrem Mann, Hans Arp. Eben dies geschieht im Ausstellungskatalog „Die andere Seite des Mondes“ nur am Rande. Vielmehr wird ihr künstlerisches und privates Verhältnis zu anderen Künstlerinnen diskutiert.

So widmet sich Susanne Meyer-Büser in ihrem Katalogbeitrag dem Verhältnis zwischen Sophie Täuber-Arp und der Fotografin Florence Henri (1893-1882). Wie erstere durchquerte auch Henri mehreren Ländern und Kunstströmungen: Von den Futuristen in Rom, zu den Kubisten in Paris bis zum Bauhaus in Dessau, verfolgt Meyer-Büser ihren künstlerischen Weg und zeigt nicht zuletzt, wie sich die beiden Künstlerinnen in der Konkreten Kunst über die Gruppe „Cercle et Carré“ treffen. Dem Beitrag gelingt es, die Lebenswege und künstlerischen Entwicklungslinien der beiden Künstlerinnen anschaulich nachzuzeichnen. Sucht man hier aber nach detaillierteren Analysen einzelner Kunstwerken so wird man enttäuscht.

Walpurga Krupp betrachtet Sophie Taeuber-Arp im Zusammenhang mit Sonia Delaunay (1885-1979). Einerseits Wegbereiterin der simultanen Malerei in Paris, andererseits Modedesignerin, die Avantgardekunst und Kunsthandwerk zu verbinden wusste, traf sich diese wie Henri und Taeuber-Arp mit der Gruppe „Cercle et Carré“. Mit Taeuber-Arp teilte sie auch das Schicksal, mit einem bekannten Künstler verheiratet gewesen und von der Forschung in seinen Schatten gestellt worden zu sein. Krupp analysiert die Verbindung zwischen den beiden Frauen unter anderem über deren internationales künstlerisches Engagement sowie über die Verbindung von Kunst und Gebrauchsgegenständen. Gerät der biografische Teil an einigen Stellen zu ausführlich – insbesondere da, wo er zu Taeuber Arp im vorangegangenen Aufsatz bereits Gesagtes rekapituliert – so liefert Krupp in Bezug auf die Kunstgewerbepraxis der Künstlerinnen und der darin enthaltenen Verbindung von Kunst und Lebenspraxis bemerkenswerte Erkenntnisse.

In einem weiteren Katalogbeitrag widmet sich der Hannah Höch-Spezialist Ralf Burmeister Kunst und Leben von Sophie Taeuber-Arp und Hannah Höch. Ausgehend von einer realen Begegnung der beiden Künstlerinnen im Sommerurlaub 1923, führt er die Lebensläufe vor allem über ihre unterschiedlichen Dada-Aktivitäten zusammen. Anders als in den anderen beiden Beiträgen fällt die Beschäftigung mit Taeuber-Arp hier recht gering aus, der Schwerpunkt des Aufsatzes liegt deutlich auf dem künstlerischen Wirken Hannah Höchs. Hannah Höch, einzige Frau in der Berliner Dada-Bewegung, die sich in ihrem späteren Werk auch dem Surrealismus zuwenden sollte, wird dabei vor allem anhand ihrer Collagentechnik eingeführt. Burmeister liefert in diesem Zusammenhang nicht nur einen guten Überblick über das künstlerischen Schaffen Höchs, sondern zeigt treffend die Entwicklungslinien anhand differenzierter Analysen einzelner Collagen und Ölbilder auf. Er schlägt außerdem einen Bogen zu Krupps Aufsatz, indem er auf die Verbindung zu Sonja Delaunay eingeht.

Dass auch im Surrealismus Künstlerinnen eine bedeutende Rolle gespielt haben, zeigt Karoline Hille in ihrem Aufsatz „Die ungleichen Schwestern. Claude Cahun, Dora Maar und der Surrealismus“. Die Künstlerinnen werden anhand ihrer gemeinsamen Begeisterung für Fotografie, Theater und linke Ideale vorgestellt. Mit Claude Cahun (1894-1954) und Dora Maar (1907-1997) wendet sich die Autorin nicht zuletzt der Verbindung von Politik und Kunst im Surrealismus zu. Denn beide waren aktive Mitglieder der surrealistischen antifaschistischen Gruppe „Contré Attaque“, deren Aktivitäten nach wie vor wenig erforscht sind. Hille bettet die Werkanalysen gekonnt in die Geschichte der surrealistischen Gruppen ein, ohne dabei die Eigenständigkeit der Künstlerinnen aus den Augen zu verlieren. Positiv ist außerdem, dass Cahuns selbstinszenatorische Fotografien, rund um die Thematik der Identitätsverweigerung, im Kontext ihrer Schriften betrachtet werden. Dabei geht Hille auch auf die Zusammenarbeit mit ihrer Geliebten Suzanne Malherbe alias Marcel Moor ein, die die Fotografien in Collagen verarbeitete. Sowohl Dora Maar als auch Claude Cahun haben während ihres künstlerischen Schaffens immer wieder die Herrschaft von Dingen thematisiert. Hille geht diesem Thema souverän anhand von Analysen verschiedener Fotografien nach und behandelt dabei nicht zuletzt das Monströse als durchgehendes Motiv. Damit schließt die Autorin in bemerkenswerter Weise an aktuelle kunstgeschichtliche Debatten an, die die Beschäftigung mit Objekten und Materialien in den Vordergrund rücken.

Als kreative Zugabe ist im Ausstellungskatalog Cahuns Text „Achten Sie auf die häuslichen Gegenstände“ abgedruckt. Obwohl Cahun hauptsächlich als Schriftstellerin aktiv war, ist keines ihrer Bücher in deutscher Sprache erhältlich. Dem Ausstellungskatalog kommt so der Verdienst zu, auch diese Seite ihres künstlerischen Schaffens in den Blick zu rücken.

Obwohl der Katalog vorgibt, die Avantgardekünstlerinnen durchgehend im Zusammenwirken mit Kolleginnen vorzustellen, stellt Pauline Kurc-Majs Beitrag zur russisch-polnischen Bildhauerin Katorzy Kobro (1898-1951), deren Leben und Werk separat vor. Dennoch liefert Kurc-Maj einen der beeindruckendsten Beiträge des Kataloges, da zu der exzentrischen, von der konkreten Kunst geprägten Künstlerin Kobro, deren Werk fast komplett zerstört wurde, so gut wie keine Forschung existiert. Die Autorin diskutiert in differenzierter Weise, wie sich Kobro sowohl mit eindrucksvollen Plastiken aus Industriematerial als auch in ihren Schriften, mit dem Verhältnis von Raum, Zeit und Rhythmus auseinandergesetzt hat. Kurc-Maj liefert überzeugende, detaillierte Analysen der neun vorhandenen Raumkompositionen und diskutiert dabei auch ihre Verbindungen zu anderen Künstlern wie El Lissitzky und Kasimir Malewitsch.

Eine weiterer Gegenstand von Ausstellung und Katalog ist die surrealistische Filmemacherin Germain Dulac (1882-1942). Doch wer sich nun auf einen Beitrag zu der in ihrer Zeit bekannten, heute aber in Vergessenheit geratenen Künstlerin freut, dessen Erwartungen werden enttäuscht. Denn unter dem Titel „Germain Dulac“ werden im Katalog lediglich Bildausschnitte aus ihrem Film „La coquille et le clergyman“gezeigt. Das ist umso ärgerlicher, da Dulac damit noch vor Luis Buñuels „Andalusischem Hund“ einen dezidiert surrealistischen Film lieferte und nicht zuletzt eine Gegenüberstellung der beiden Filme spannende Ergebnisse versprechen würde.

An einigen Stellen gewinnt der Leser des Kataloges den Eindruck, als wäre das künstlerische Engagement der Avantgardistinnen zu sehr von demjenigen der männlichen Kollegen separiert. Weitere Untersuchungen, die die Werke der Künstlerinnen direkt in Zusammenhang mit denjenigen der Künstler analysieren würden, hätten dem Katalog eine schöne Abrundung gegeben.

Insgesamt hält der Katalog aber, was er verspricht: Er gibt faszinierende Einblicke in das gemeinsame Wirken verschiedener Avantgardekünstlerinnen und zeigt dabei viele bisher unbekannte Details auf. Erfreulich ist, dass das reduktive Bild der Künstlerin als Muse und Beraterin des männlichen Künstlers hierbei – entgegen anderer Publikationen der letzten Jahre – vermieden wird. Auch das Konzept, immer zwei Künstlerinnen parallel vorzustellen, überzeugt. Allerdings wird Sophie Taeuber-Arp zu dominant gesetzt. Anstelle drei Beiträge zu dieser Künstlerin zu publizieren, wäre es durchaus sinnvoll gewesen, auch diejenigen, die sich nicht direkt persönlich gekannt haben, aber gemeinsame Themen, Strukturen und Motive aufweisen, gemeinsam zu betrachten. So hätte beispielsweise eine übergreifende Analyse der Werke Hannah Höchs und Claude Cahuns spannende Ergebnisse (etwa hinsichtlich der politischen Motivation oder der Technik der Collage) versprochen.

Titelbild

Susanne Meyer-Büser (Hg.): Die andere Seite des Mondes. Künstlerinnen der Avantgarde.
DuMont Buchverlag, Köln 2011.
288 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783832193911

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