Originelles Sprachgenie und Repräsentant seiner Zeit

Hans-Dieter Gelfert: „Charles Dickens. Der Unnachahmliche“

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anlässlich des 200. Geburtstags von Charles Dickens legte der emeritierte Professor für Anglistik Hans-Dieter Gelfert seine Dickens-Biografie vor. In Deutschland, wo Dickens nie die Aufmerksamkeit und den Ruhm genoss wie in England, ist es der Versuch, mit einer ersten größeren Biografie dieser Tatsache abzuhelfen. Dabei legt Gelfert das Augenmerk besonders auf den „diagnostischen Blick in die conditio humana, der vom deutschen Lesepublikum bisher kaum erkannt worden sei. Daher sei dieses Buch auch „nicht als reine Biographie, sondern als Monographie über Leben und Werk des Dichters angelegt“, wie Gelfert im Vorwort schreibt. Ihm gehe es vor allem darum, dem Lesepublikum eine Vorstellung vom literarischen Rang des großen Erzählers zu vermitteln, der in England so repräsentativ für sein Zeitalter empfunden wird, wie sonst nur Shakespeare und Dr. Johnson.

Dieser Ansatz spiegelt sich denn auch in dem Buch wieder, wenn Gelfert einerseits chronologisch das Leben von Dickens erzählt und andererseits eine konkrete Werkanalyse der zu dem jeweiligen Lebensabschnitt geschriebenen Romane beifügt. Diese scheinbar etwas didaktisch anmutende Anordnung hat für den Leser jedoch den Vorteil, sich über den jeweiligen Roman informieren zu können, ohne sich mit den Lebensumständen beschäftigen zu müssen. Denn Dickens war ein Vielschreiber, der 14 Romane und unzählige Prosatexte veröffentlichte.

Charles John Huffham Dickens, wie sein genauer Name lautet, wurde am siebten Februar 1812 in Portsmouth geboren. Schon früh lernte er die raue Wirklichkeit des Arbeitslebens im viktorianischen England kennen, als er mit 12 Jahren in einer Schuhwichsfabrik zur Entlastung des geschrumpften Familienbudgets arbeiten musste. Der nächste Schlag folgte nur 11 Tage später, als nämlich sein Vater im Gefängnis als Schuldgefangener inhaftiert wurde. Diese Erniedrigungen belasteten ihn sein Leben lang und fanden auch Eingang in seine Romane, die überhaupt sehr von seinen persönlichen Erfahrungen geprägt wurden.

So wurde auch ein anderes Ereignis in seinem Leben zu einem Lebenstrauma, die Zurückweisung in jugendlichem Alter durch seine erste große Liebe. Diese Erfahrung prägte sein Verhältnis zu Frauen im Leben und in seinen Romanen. Wie Gelfert ausführlich erzählt, hatte sein schriftstellerisches Schaffen früh begonnen. Schon mit 22 Jahren veröffentlichte Dickens unter dem Autorennamen „Boz“ 5 Erzählungen in der Zeitschrift „Monthly Magazine“. Dieser Autorenname wurde schnell zum Kennzeichen eines ganz eigenen, unverwechselbaren Stils. Dickens wurde zu einem bekannten und vom Publikum geschätzten Autor im viktorianischen England. Obwohl Autodidakt, gelang es ihm in kurzer Zeit mit seinem Humor und der Schilderung von Schicksalen von Menschen aus armen Verhältnissen wie Oliver Twist oder David Copperfield der viktorianischen Gesellschaft ihre Mängel wie in einem Spiegel vorzuhalten.

Jedoch blieb es nicht bei bloßer Kritik Gleichzeitig schuf er für sich und die Leser das Terrain, sich mit dieser Gesellschaft, ihren Regeln und Verhältnissen zu identifizieren. Antrieb für ihn und seinen enormen Arbeitseifer waren die traumatischen Kindheitserfahrungen während seiner Tätigkeit in der Schuhfabrik und die Inhaftierung seines Vaters im Schuldgefängnis. Obwohl er nach mühseligem Beginn stets zu den erfolgreichsten Autoren Englands zählte, war er nach Gelfert nie frei von Ängsten, seiner Familie keine ausreichende Sicherheit und Auskommen bieten und den erreichten Lebensstandard beibehalten zu können. Nun musste er aber nicht nur seine eigene zehnköpfige Familie ernähren, sondern kam zeitweilig für den Unterhalt seiner Eltern und seiner Brüder auf.

Über diese Tätigkeiten hinaus war er auch für viele wohltätige Feste und Aktionen tätig, spendete aber selbst kein Geld für diese Feste und die sie tragenden Organisationen. Sein persönlicher Einsatz musste hier genügen. Dieser Einsatz für die Unterprivilegierten machte ihn für viele glaubwürdig, da er sich nicht nur in seinen Romanen für die Unterdrückten einsetzte, sondern auch in der Realität. Eigentlich wollte Dickens ja Schauspieler werden, aber eine Krankheit ließ den Vorsprechtermin platzen. So bekam das damalige Publikum statt eines vielleicht mittelmäßigen Schauspielers einen hervorragenden Autor und eine große Anzahl an spannenden Romanen und Erzählungen. Wie Gelfert stets zu erwähnen weiß, benötigte Dickens nach jedem fertiggestellten Roman eine schöpferische Pause. Diese nutze er dann für Theateraufführungen, wo er meist in komischen Rollen glänzte. Und er schrieb bekanntlich viele umfangreiche Romane von „Die Pickwickier“, „Oliver Twist“, „David Copperfield“, „Bleakhaus“, „Harte Zeiten“ bis zu seinem letzten vollendeten Roman „Große Erwartungen“, den viele Kritiker für seinen besten Roman halten. Eine Besonderheit der literarischen Situation der Zeit war die Veröffentlichung von Romanen in Zeitschriften als Fortsetzungsroman. Dadurch hatten auch die unteren Schichten die Möglichkeit, die Romane zu lesen und so hatten diese Lesehefte oft über 100.000 Käufer. Andererseits mussten Ablauf und Spannungsbogen der Romane auf die besondere Erscheinungsweise abgestimmt werden. Die Zeitschriften wurden auch per Schiff in die USA geliefert und hatten dort ebenfalls großen Erfolg. Anlässlich der letzten Lieferung des Romans „Der Raritätenladen“ kam es zu einem Massenauflauf im Hafen, weil die Leute wissen wollten, ob die Hauptfigur, Nelly, ein zartes unschuldiges Mädchen, überleben würde.

Hier verweigerte sich Dickens einem sentimentalen Happy End, er ließ Nelly sterben. Für seine Romane suchte Dickens geeignete Illustratoren und hatte meist Glück mit seiner Wahl, denn diese Illustrationen trugen ganz sicher auch zu dem Erfolg der Romane bei. Mit Amerika und seinem Lesepublikum hatte Dickens durchaus seine Probleme, da in den USA das Copyright nicht anerkannt war und jeder seine Romane ohne Honorarzahlungen nachdrucken konnte. Deshalb war Dickens bemüht, auch für die USA mit den Zeitschriften Verträge über den Abdruck und Honorarzahlungen abzuschließen, was ihm auch gelang. Allerdings schrieb er nach seiner Reise in die Staaten einen durchaus kritischen Artikel über das Land und die Bewohner und vergaß nicht, das ungelöste Copyright-Problem zu erwähnen. Das führte zeitweilig zu einer Abkühlung des Verhältnisses zwischen Dickens und Amerika, aber anlässlich seiner zweiten Reise konnte er die Vorbehalte ausräumen und er wurde wieder begeistert bei seinen Leseauftritten gefeiert.

Auch dies sei erwähnt über das Allroundtalent, denn er war ein begnadeter Vorleser und seine Lesungen würde man heute als Performance bezeichnen. Allerdings bereitete das Stehen am Pult Dickens bei seinen Lesungen zunehmend gesundheitliche Beschwerden. Neben den Romanen, in denen er sich mit den Arbeitsbedingungen in den Fabriken auseinandersetzte, befasste er sich 1843 mit dem Elend der Kinderarbeit und schrieb zum Weihnachtsfest 1843 das Weihnachtsmärchen „A Christmas Carol“, das mit vier farbigen Illustrationen als schmales Buch erschien. Das Buch wurde ein so großer Erfolg, dass er fortan mehrmals zu Weihnachten Geschichten schrieb.

In England ist Dickens vor allem und zuerst der Autor von „Ein Weihnachtslied in Prosa. Eine weihnachtliche Geistergeschichte“, wie das Buch auf Deutsch heißt. Zwar war in früheren Romanen das realistische Geschehen mit märchenhaften Zügen versehen worden, aber in diesem Text erzählt er das Märchen so, dass die Leser die deutliche Kritik an den realen Verhältnissen keineswegs überlesen konnten. Auch in Deutschland ist diese Geschichte neben „Oliver Twist“ und „David Copperfield“ seine bekannteste. Für Gelfert ist Dickens einer der größten Prosadichter der englischen Sprache. Bei ihm steche besonders die reiche Ausdrucksskala von großer Sprachkomik bis zu heiterer Skurrilität hervor, die allerdings in Gänze nur im Original zu haben sei. Weiter verweist er auf die durchgängige Motivstruktur der Romane. Immer ist es der Dreiklang von geheimnisvoller Erbschaftsgeschichte, von Wasser und dem Gefängnis, der die Romane strukturiert. Diese Erkenntnis wird dem Leser etwas zu stereotyp von Gelfert vorgetragen, hier hätten ein wenig mehr Differenzierung und das Aufzeigen der unterschiedlichen Verarbeitung in den Romanen einen größeren Erkenntnisgewinn für den Leser bedeutet.

Ähnlich knapp ist der Nachweis der Verwandtschaft zu Kafka. Man kennt zwar die Tagebuchstelle bei Franz Kafka, wo er sich selbst der Dickensimitation bezichtigt, aber Kafka und Dickens trennen doch mehr als nur der skurrile Humor und das sentimentale Pathos, wie Gelfert formuliert. Auch der Verweis auf die Nähe zu James Joyce scheint doch ein wenig übertrieben, zumindest zu wenig am Text nachgewiesen. Interessant und neu dagegen sein Hinweis, dass die Romane von Dickens auch als Wortopern und symbolische Bilderfolge zu lesen seien. Dafür spricht schon allein die Tatsache, dass Dickens viele seiner besten Romane mit einer symbolischen Ouvertüre beginnen lässt.

Dickens wurde zu Lebzeiten als literarische und moralische Ikone verehrt, an dem kein Makel war, obwohl er sich unter unschönen Begleitumständen von seiner Frau getrennt hatte. Zwar wurde immer über eine Liebesbeziehung gemutmaßt, aber endgültig bewiesen wurde erst fast 70 Jahre nach seinem Tode, dass Dickens wohl ein jahrelanges Verhältnis mit der jungen Ellen Ternan gehabt hatte. Doch da vermochte diese Enthüllung nichts mehr am moralischen Dickens-Bild zu ändern. Die letzten Jahre verlebte er als typischer Landedelmann und weiterhin schreibend. Seinen letzten Roman „Das Geheimnis des Edwin Drood“ hinterließ er unvollendet. In seinem Testament verfügte er, dass ihm in England kein Denkmal gesetzt werden dürfe. Und so gibt es in der englischsprachigen Welt nur zwei Denkmäler, eins in den USA, das andere in Australien. Gelferts Biografie präsentiert dem deutschen Publikum einen Dickens, der mehr ist als nur der Dickens der „Weihnachtsgeschichte“ und beiden Romane „Oliver Twist“ und „David Copperfield“. Auch die Reduzierung auf seinen Humor, seine Skurrilität und Sentimentalität wird von ihm abgelehnt. Vielmehr zeigt er die Vielfalt der Themen und auch die Modernität in den Romanen von Dickens, wenn er ihn in die Nähe zu Kafka und Joyce rückt. Es bleibt zu hoffen, dass diese Biografie dazu beiträgt, dass im Gegensatz zu den letzten Jubiläen diesmal das Interesse an Dickens über den aktuellen Anlass hinaus bestehen bleibt und seine Romane eine große Leserschar erreichen.

Titelbild

Hans-Dieter Gelfert: Charles Dickens. Der Unnachahmliche.
Verlag C.H.Beck, München 2011.
375 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406622175

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