Der Bewegungskünstler

Der junge französische Comiczeichner Bastien Vivès erhält in diesem Jahr für die Graphic Novel „Polina“ den großen Kritikerpreis. Er wird für sein Talent ausgezeichnet, Bewegungen in Bilder zu bannen

Von Waldemar KeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Kesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das wichtigste europäische Comic-Festival im französischen Angoulême stellt die Wegmarken in der jungen Laufbahn von Bastien Vivès auf. Vor drei Jahren erhielt er für sein Album „Der Geschmack von Chlor“ dort als wichtigster Nachwuchskünstler den Prix Essentiel Révélation. In diesem Jahr verleiht ihm der Kritikerverband für sein Buch „Polina“ den Grand prix de la critique für das beste Comic-Album. Der Preis definiert jedes Jahr den Gipfel der Comic-Kunst. Mit erst 27 Jahren ist Bastien Vivès ins Pantheon der erzählenden Zeichner aufgestiegen.

Seine Graphic Novel erzählt von der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler. Eine junge Tänzerin tritt als junges Mädchen in die Akademie des Professors Bojinski ein, einem Meister des klassischen Tanzes. Sie bekommt seine Strenge schmerzhaft zu spüren. Obwohl sie später ihren eigenen Weg geht, geben seine Lehren ihr Orientierung, wenn sie Zweifel an ihrer Berufung überkommen. Der Titel „Polina“ lehnt sich an die international renommierte Tänzerin Polina Semionova an, die mäßig begeistert darüber ist, dass jemand ungefragt ihr Leben fiktionalisiert hat.

In einem Youtube-Video zeigt Bastien Vivès, wie er arbeitet. Er ist der erste Zeichner in der Riege der Preisträger des „Grand prix de la critique“, dessen Bücher ganz selbstverständlich beinah ausschließlich am Computer entstehen. Für „Polina“ stand für ihn fest, dass er ganz auf Farben verzichten muss, damit ihre visuelle Wirkung nicht von den Tanzbewegungen der Körper ablenkt. Alltagskleidung hält er in Grau, während für die Haut und die Tanzposituren Weiß benutzt. Mit Schwarz setzt er schließlich Kontraste. Als Bojinski der sechsjährigen Polina die Grundlagen seiner Lehre beibringt, verschwindet in der Folge von vier Bildern das Grau immer mehr. Im letzten Bild bildet das Schwarz von Bojinskis Jackett den Hintergrund, während sich seine riesenhafte Pranke über ihren noch unausgebildeten weißen Körper legt. Das ist der symbolische Moment, in dem Polina anfängt, nur noch für den Tanz zu leben. Auf der Bühne fräsen sich später die weißen Körper in ein sonst völlig schwarzes Bild.

In einem Gespräch mit dem französischen Radiosender France Culture sagt Bastien Vivès: „Ich habe schon immer gerne Leute gezeichnet, die sich elegant bewegen und eine natürliche Grazie haben.“ Es mache ihn traurig, wenn er sehe, dass die Schönheit einer natürlichen Haltung verloren geht. Wenn er seine Bücher entwirft, schweben ihm zuerst bestimmte Körperbewegungen im Kopf herum. Schon „Der Geschmack von Chlor“ war eine türkisfarbene Bewegungsstudie über die Annäherung an fremde Orte und Menschen. Eine Frau, deren natürliches Element das Wasser zu sein scheint, bringt einem schüchtern-ungelenken Jungen das Schwimmen bei. Das Erlernen der richtigen Bewegung wird darin zur Chiffre, sich die Welt anzueignen.

Vivès beschreibt seine Figur Polina in dem Radiointerview als Schwester, die er nie gehabt hat. Sie beide teilen die Erfahrung, dass man als Künstler alleine dasteht, wenn es um die wesentliche Entscheidung geht, wie man sich künstlerisch ausdrücken will. Während der Ausbildung beantwortet zwar kein Lehrer die Fragen, die man sich als Künstler stellen muss. Aber er hilft seinen Schülern dabei, die richtigen Fragen für sich zu entdecken. „Bei einem guten Lehrer bekommt man Lust, Entscheidungen zu treffen. Er lässt die Dinge einfach aussehen, damit seine Schüler sie verstehen und daran glauben, dass sie ihre Vorstellungen umsetzen können.“

Bastien Vivès’ Vater ist Maler und Illustrator, was ihn dazu bewegte, Grafik und Animation an der École des Gobelins zu studieren. Letzten Endes war es jedoch der Filmemacher Alain Monclin, der ihn entscheidend prägte: „Seinetwegen mache ich heute Comics.“ Alain Monclin gab an der École des Gobelins einen Kurs über die Mise-en-scène im Kino. Der junge Vivès stellte sich dort mit den Worten vor: „Ich will Geschichten erzählen, weiß aber nicht wie.“ Für Comics hatte er sich bereits interessiert, als er mit dem Zeichnen angefangen hatte. Nach dem Kurs verfügte er aber über die Werkzeuge, die ein visueller Erzähler braucht: Er wusste nun, wie er die Seiten aufteilen muss, wie er die Übergänge zwischen den Einzelbildern zu gestalten hatte oder wie verschiedene Perspektiven wirken.

In demselben visuellen Stil, für den er den großen Kritikerpreis erhält, hat Bastien Vivès vor kurzem den pornografischen Comic „Les Melons de la colère“ („Melonen des Zorns“) rausgebracht. Er gibt sich zwischen intensiven Produktionsphasen in seiner WG immer wieder seiner Liebe für das Hau Drauf-Videospiel „Street Fighter“ hin. Jetzt gehört er offiziell zu den ganz Großen des Mediums. Wie andere Großmeister seiner Zunft, etwa Joann Sfar („Gainsbourg“) oder Marjane Satrapi („Huhn mit Pflaumen“), liebäugelt er mit dem Kino. „Ich habe nie gesagt, dass ich bei Comics stehenbleiben werde. Ich liebe es, immer weiter zu gehen und nicht immer dasselbe zu tun. Der Laune des Augenblicks nachzugeben.“

Titelbild

Bastien Vivès: Polina.
Übersetzt aus dem Französischen von Mareille Onon.
Reprodukt Verlag, Berlin 2011.
202 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783941099913

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