„… eine Morphiumspritze unter die Haut.“

Antonin Artaud und der Film

Von Reiner NiehoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reiner Niehoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Recht schnell und umstandslos, wenn es um die Definition des Surrealismus geht und um die Frage nach den Bildern, die er in seinem Traumkopf erzeugte, taucht der Film auf; so stark wirken die beiden cineastischen Koproduktionen von Luis Buñuel und Salvador Dalí, also der „Chien andalou“ von 1928 und „L’age d’or“ von 1930, noch bis heute nach. Darüber wird leicht vergessen, dass das Kino in André Bretons Traumfabrik kein spanischer Sonderweg gewesen ist. Auch Marcel Duchamp, Max Ernst und René Magritte versuchten sich mit Drehbuch und Regie ein wenig am gar nicht mehr so neuen Medium; und im weiteren Umfeld zog Jean Painlevé seine Kreise, der fantastische und viel zu vergessene Unterwasser-Tierfilmer. Außerdem bot das Kino durch seine offensichtliche Herkunft aus den niederen Regionen der Kultur reichlich Provokationsstoff, um der akademischen Kunstradition eine Extra-Kugel zu verpassen, und es verwundert nicht, dass der genialische Verbrecher Fantômas, nicht zuletzt dank der Verfilmung Louis Feuillades, zu einem der designierten Heroen der Bewegung avancierte – in direkter Nachbarschaft zu den anderen Ikonen aus den Reichen des Jazz, der Revuen und Music-Halls. Schon in der ersten Nummer von „La Révolution surréaliste“ 1924 huldigt die frisch geschlüpfte Bewegung denn auch Buster Keaton mit einem Standbild aus dem gottgleichen Stummkurzfilm „One Week“ von 1920, und geschlossen stellten sich die Bretonen im Oktober 1927 auf die Seite Chaplins, als der im Ehekrieg unterzugehen drohte. Surrealismus und Film – eine Seite einer Medaille also?

Auf den zweiten Blick: Eher nein. Denn sieht man einmal genauer hin, dann sind doch die Bezüge zum Film – erstaunlich eigentlich angesichts seiner traumhaft-technischen Möglichkeiten – eher peripher. Breton, der alte Kunsthändler, zog unbedingt das Öl auf der Leinwand dem Schattenspiel im Dunkelraum vor. Und theoretische Auseinandersetzungen, gar Manifeste, Aufrufe, offene Briefe in Sachen Kino sucht man in seiner Revolutions-Gazzette vergebens. Eine Ausnahme bildet da ohne Zweifel Antonin Artaud, die Ausnahme in Person.

Denn Artaud flirtet nicht nur von Ferne mit dem Film, um dann doch rasch zu Picasso zu wallfahrten, sondern versucht sich mit und verdingt sich an den Film in jeder Form, zehn Jahre lang. So dürfte jeder, der sich einmal mit dem Kino der 1920er- und frühen 1930er-Jahre beschäftigt hat, der hagere Mann (einen „gedrungenen Raubvogel mit staubigem Gefieder“ hat Georges Bataille ihn genannt) irgendwo in irgendeiner Filmrolle aufgefallen sein: als Marat in Abel Gance’ „Napoleon“, als Mönch in Carl Theodor Dreyers „Jeanne d’Arc“, als einer der Bettlerlehrlinge in Georg Wilhelm Pabsts französischer Film-Fassung der „Dreigroschenoper“, als Intellektueller in Léon Poiriers „Verdun“ oder in der Doppelrolle als Wachengel und Scherenschleifer in Fritz Langs „Liliom“. Wer noch genauer hinschaut, kann ihn entdecken in den Filmen des von den Surrealisten arg gebeutelten Marcel L’Herbier, in den Fragwürdigkeiten von Raymond Bernard oder mehrfach unter der Regie von Luitz-Morat. 22 Stummfilm- und Tonfilmrollen hat Bernd Mattheus eruiert.

Daneben und dafür geht Artaud natürlich auch ins Kino, und zwar mit Verstand. Er sieht sich „Intolerance“ von D. W. Griffith an und hat fortan einen Begriff von Macht und Möglichkeiten des amerikanischen Ausstattungs-Monumentalismus; so kann er die französische Epigonenpiefigkeit lustvoll geißeln; er sieht sich auch Lord Chaney an in Rupert Julians „Phantom in der Oper“ – diese monströse Apologie der Hässlichkeit, der schwarzen Gewässer und des roten Todes unter den Bühnenbrettern der großen Oper musste ihm gefallen. „Caligari“ und „Nosferatu“, Charlie Chaplins „Goldrush“, Josef von Sternbergs „Underworld“ und Robert J. Flahertys „The Sea“ sind seine erklärten Lieblingsfilme. Über die Marx Brothers wird er einen kleinen Text schreiben und Pudowkins „Mutter“ im Rahmen des zweiten Programms seines Theatre Alfred Jarry zur Aufführung bringen.

Aber das ist längst noch nicht alles. Artaud schreibt auch reichlich Drehbücher, von denen zum Glück acht erhalten sind; andere hat es leider verschwemmt, darunter so illustre wie „Der Pavillon der schwarzen Wissenschaften“ oder „130 Tage zu leben“; auch plante er einen Film über den Okkultismus. Unter den erhaltenen Entwürfen hingegen finden sich, damit die Trauer nicht zu groß sei, erlauchte Surprisen. So will Artaud in „Zwei Nationen an den Grenzen der Mongolei“ (1926) ein asiatisches Kriegsscharmützel durch die Infusion mit surrealistischen Gedichten aus der Welt schaffen, allein sein Protagonist scheitert an der profanen Rationalitäts-Verpanzerung politischer Humor- und Ausweglosigkeit. In „Les 32“ geht Artaud dem unscheinbaren Leben eines professoralen Frauenmörders nach, der seine Schateken in Alkohol konserviert und über Nacht so plötzlich aus einer französischen Kleinstadt verschwindet wie der Nosferatu aus Transsylvanien. Tatsächlich hatte Artaud gehofft, als er 1930 mit Pabst in Berlin drehte, Walter Ruttmann als Regisseur für die Verfilmung des Gothic-Horror-Stoffes gewinnen zu können (sollte er Ruttmann nicht doch mit Murnau verwechselt haben?).

Das ohne Zweifel monströseste und eigenständigste Drehbuch seiner Art ist sicher Artauds letztes, „Die Revolte des Metzgers“, das im Juni 1930 in der Nouvelle Revue Française publiziert wird. Denn Artaud sucht in seinem Entwurf nach einer Kunst-Perturbation, die weniger dem Traum, wie Surrealismus-üblich, als vielmehr der Mechanik und Explosivität des Lachens äquivok sein solle – das aber nicht als Übersetzung des Lachens ins Lachen, sondern der Mechanik in Dynamit. Artaud lässt keinen Zweifel aufkommen: „Die Revolte des Metzgers geht von einem ähnlichen geistigen Verfahren aus, aber alle Elemente, die in dem vorhergehenden Film nur potenziell vorhanden waren: Erotik, Grausamkeit, Blutdurst, Trachten nach Gewalttätigkeit, Besessenheit vom Schrecklichen, Auflösung moralischer Werte, gesellschaftliche Heuchelei, Lügen, Falschaussagen, Sadismus, Perversität etc., etc., werden hier mit einem Maximum an Lesbarkeit angewendet.“ Um dieses cineastische Unding auf die Leinwand zu rufen, projektiert Artaud gar die Gründung einer Firma zur Herstellung avantgarde-experimenteller und französisch-komischer Kurzfilme bis auf den letzten Sous.

Leider sind all diese Drehbücher so wenig realisiert worden wie die kleinen Werbefilme, die Artaud entworfen hat, mit einer berühmten Ausnahme: „La coquille et le clergyman“ (Die Muschel und der Clergyman, geschrieben 1927, UA im Februar 1928). Gefördert und gedreht wird der Film dank der Hilfe von Artauds Gönnern Yvonne und René Felix Allendy, die das Projekt finanzieren und die Regie an die zweite grande dame des französischen Films, an Germaine Dulac vergeben. Artaud selbst ist zu der Zeit zwar ebenso durch die Filmarbeiten mit Dreyer wie durch den etwas unverständlichen Unwillen der Regisseurin von jeder Mitarbeit ausgeschlossen, versucht aber, durch Briefe und Gespräche der Dulac seine Ideen für Dekor, Bühnenbauten und Kostüme, für die gestische Rhetorik der Schauspieler, für besondere Kameraeinstellungen und szenische Lösungen nahe zu bringen, um allerdings von dem Resultat – dem nachgerade ersten surrealistischen Film überhaupt und, so betont Artaud immer wieder, der Matrix für alle Nachfolger, inbesondere für Bunuels „Chien andalou“ – überaus enttäuscht zu sein. Am Ende wird er nicht einmal zur ersten, privat veranstalteten Vorführung eingeladen und skandalisiert darob die erste öffentliche im Februar 1928 beträchtlich.

Nun hat die feministische Filmwissenschaft versucht, Artauds berechtigten Ärger als maskulines Muskeltum zu desavouieren; vergleicht man allerdings Drehbuch und Film, wird schnell klar, dass Artaud nicht die weibliche Ästhetik der Dulac, sondern vielmehr die fast sklavische und dadurch zu plakative, in den exzessiven Randstellen des Skripts auch zu scheue Umsetzung missfallen musste. Die Schmerzspitzen der Bilder fehlen, und damit der Artaud im Artaud.

Endlich hat Artaud aber nicht nur Filme gesehen, in Filmen gespielt, Drehbücher geschrieben, finanzielle und filmtechnische Experimente bedacht und selber Regie zu führen geplant – er wollte „The Monk“ von Matthew Gregory Lewis nach seiner eigenen Übersetzung verfilmen –, Artaud hat sich schließlich auch mehr als jeder andere der surrealistischen Bewegung theoretisch mit dem Kino beschäftigt. Das aber ist kein Zufall, sondern hat seinen Grund in der Sache. Denn Artauds essayistische Auseinandersetzung mit dem Film beginnt 1923, kurz also vor der Korrespondenz mit Jacques Rivière, und das heißt: kurz bevor Artaud die existentielle Verstellung und Blockierung seines eigenen Schreibens, Denkens und Lebens durch die vampiristische Macht der Sprache und die identifikatorische Gewalt der Begriffe diagnostiziert; ab jetzt ist ihm Sprache immer nur der fehlerhafte Abhub, der sekundäre Verputz einer grundsätzlichen Verhinderung, die irreparabel mit den Wörtern verknüpft ist. Deshalb macht sich Artaud auf die Suche nach dem Bild, genauer: nach einer quasi präthetischen, mit Kristeva gesprochen: choratischen Energie des Bildes, das sich keinem Text, keinen Sinn, keiner Aussage und keinem diskursiven Zwang unterwirft.

Und genau an diesem Punkt, so scheint es, kommt ihm nun das Kino gerade recht. Zumindest vermerkt er in seinem ersten Statement zum Film, einer (nicht abgesendeten) Umfrageantwort 1923: „Das Kino ist erregender als Phosphor, packender als die Liebe. Man kann sich nicht endlos befleißigen, seine mitreißende Krafft zu zerstören, indem man Themen verwendet, die seine Wirkung neutralisieren und die zum Theater gehören. […] Das Kino hat vor allem die Kraft eines unschädlichen und direkten Giftes, eine Morphiumspritze unter die Haut.“ Poetische und phantasmagorische Filme bräuchte es, so Artaud weiter, deren noch kaum entdeckte Energie sich aus den basalen ästhetisch-technischen Möglichkeiten des Kinos ergäben: aus der Schnelligkeit und aus der insistierenden Wiederholung – aus der repetitiven Kraft des flugzeuggleich surrenden Automaten. Diese seine Kraft gelte es gegen das Erzählkino (den Repräsentanten der Institution Sprache im Reich der flirrenden Bilder) auszuspielen. So die Ausgangsthese, die Artaud nun in den folgenden Jahren weiter entwickeln, immer neu positionieren und variieren wird.

Das zeigt deutlich der Aufsatz über „Hexerei und Kino“ von 1927, sieht Artaud doch, in direktem Anschluss an das frühe Statement, im Film die Chance, eben jene Kraft freizusetzen, die der geheimen Macht und der Materie der Bilder überhaupt eigen sei. Nur dass er jetzt die Freisetzung dieser filmischen Kraft nicht mehr in der Velozität der Bilder ortet, sondern in der Möglichkeit, die einzelnen Dinge der Welt filmisch zu isolieren, sie durch die technischen Verfahren der Verzerrung und der unerwarteten Perspektiven aus ihren vorgegeben, gesellschaftlich codierten Bedeutungsrelationen herauszulösen und souverän zu machen. Artaud erkennt, dass der Film historisch genau in dem Augenblick auftritt, da der seit der Jahrhundertwende oftmals diagnostizierte Symbolverlust der Sprache offenbar wird und die Sprache nurmehr in ihrer Funktion als Organisator, als Steuermodul der Lebens-Logistik eine Rolle spielt. Wo aber derart alles auf ein pures Benennen zusteuert, so Artaud, da übernehme die Filmkamera die Funktion einer Sonde, die die „subtile Ordnung der Dinge“ zu erkunden vermag und eine „einfache und direkte Sprache“ – eine Sprache ohne Verweis, ohne Theorie und Referenz – cineastisch erzeugen könne. Die Erkundung einer „plastischen Materie der Sprache“ aber erlaube eine Reise ins Innere der eigenen Unmöglichkeit; ein visueller Materialismus tief im „Derma der Wirklichkeit“.

Diese Verschiebung in der Bestimmung der ästhetischen Schubkraft des Kinos wird sich bereits ein Jahr später und in unmittelbarem Zusammenhang mit Dulacs „Clergyman“-Verfilmung noch einmal radikalisieren. Zwar attestiert Artaud dem Film immer noch ein spezifisch kinematografisch-magisches Moment, nur dass er dieses Moment jetzt nicht mehr in der visuellen Isolierung der Dinge findet, sondern in der „Mischung“ der Bilder – und das heißt: der Einstellungen, der Situationen, der Bedeutungen – die sich heterogen aneinander aufreiben; sie, die Mischung, löse jenen Schrecken und jenes Beben eines tiefen, nun aber: bilderlosen Denkens aus, das an der Wurzel aller geistigen und gesellschaftlichen Prozesse stehe und zugleich und immer schon durch die Bedeutung verworfen sei. Die Bilder, so scheint es, müssen für Artaud so stark sein, dass sie als Bilder zugleich evoziert und zerstört werden; sie müssen jede ästhetische (narrative, musikalische, rhythmische) Bestimmung und Wahrnehmung aufreiben, um nur mehr „das Problem des Ausdrucks in sämtlichen Bereichen und in seiner ganzen Tragweite zu stellen“.

Soweit also hat Artaud Ende 1928 seine theoretische Bestimmung des Films vorangetrieben, als ein neues Element in die Filmkunst eingespeist wird, das die nahezu gelungene Verabschiedung der Sprache geradezu institutionell zu revitalisieren scheint, und das ist der Ton. Denn der Ton bringt, das liegt in dieser Perspektive nahe, für Artaud gerade jenen Sinn akustisch unmittelbar ins Spiel, den das Gehirn dem Bild erst entnehmen muss; die Stimme assoziiert sich dem Geschauten augenblicks und legt es auf seine ausgesprochene Bedeutung fest. Aber auch der Schauspieler, zuvor gehalten, seine eigene Rhetorik der Körperhaltungen, der Gestik und Mimik zu entwerfen, wird zum puppenhaften Mundöffner der Sprache reduziert – zumal mit der Postsynchronisation gar einer stummen Universalsprache Tor und Tür geöffnet ist. Glanz, Charme, Physis – alles Beute des Teufels Sprache. So infiltriert der Ton ein bedeutunggebendes Ordnungssystem in den Film, eine Anbindung von Bild und Sprache, deren Kritik in Artauds Zeichnung deutlich nietzeanische Züge trägt. Die Sprache, die gerade und zum Glück im Film entbehrlich geworden ist, kehrt wieder, um das Hirn zu besetzen und zu okkupieren – ein Operator der Beschlagnahme, ein Agent der Sicherheitsverwahrung, sonst nichts.

Mit dieser Wende, die Artaud mit seinem Aufsatz über „Die vorzeitige Vergreisung des Kinos“ von 1933 beeindruckend diagnostiziert, scheint das Urteil gesprochen. Aber weit gefehlt, denn es kommt noch schlimmer. Zwar nämlich, so Artaud, könne und müsse man das Kino, das wahre Kino, immer noch von seinem Unheilspendant, dem Erzählkino, abheben; und vielleicht ließe sich die These vertreten, es, das wahre Kino, könne den Schein des Wirklichwahren zersetzen, indem es dessen panoramatisches Komplett-Blick in der Präsenz von Fragmentiertem, von Partialobjekten, von Metonymien unterlaufe. Aber selbst dieser Weg ist für Artaud jetzt, 1933, nur mehr eine Sackgasse. Denn wie auch immer man hier konzeptioniere, den Film ereile doch stets das Gesetz des fertigen Produkts, und das bedeutet: seine nachträgliche Unabänderlichkeit. Das Gesetz des Films ist bei aller Beweglichkeit die letztliche Mortifikation, die Apotheose des Nie-wieder-anders und verhindert dadurch genau das, was Artaud am Anfang seiner Kino-Apologie 1923 beschworen hatte: die irisierende Wiederholung, das Verfahren des Wiederkäuens, die Kraft der Magie. Der Tonfilm 1933: das ist der Tod durch Sprache, der Tod der Körpers, das Ende der repetitiven Intervention.

Um dieses Paradox zu lösen: ein ästhetisches Objekt zu erzeugen, das in sich soweit Objekt ist, dass es überhaupt wiederholbar wird – denn die Wiederholung ist auf das Wiederholbare angewiesen –, um es doch in der Wiederholung einer permanenten Veränderung, Verlagerung, Dezentrierung auszusetzen, muss sich Artaud also und endlich wieder von der Chimäre Film abwenden. Und er wird dort weiter machen müssen, wo er 1923 mit dem Film aufgehört hatte, beim Theater nämlich. Denn nur das Theater ermöglicht ihm in der permanenten Revolte der Wiederholung die permanente Wiederholung der Revolte; die Rückkehr zum Schauspiel ist der Chance zur Intervention geschuldet, die nicht im Einspruch gegen dieses oder im Zuspruch zu jenem liegt, sondern eben in der permanenten und permanent wiederholten Intervention selbst. Die aber ist auf der Bühne, nur hier, vor Ort und in dem immer neuen Einsatz und Einspruch des Körpers gegen den Sinn zu finden. Sie wird einen neuen Titel erhalten: „Das Theater der Grausamkeit“. Das enttäuschte Resümee Artauds 1933: „Das Kino gleicht jenen schreckenerregenden Masken der alten indianischen Hexer, denen durch Zeit und Abnutzung allmählich jegliche Wirkung geraubt wurde und die von den Hexern selbst nur noch für würdig erachtet werden, in den Vitrinen eines Museums vorzukommen. Diese Entmagnetisierung des Bildes wird jene Geister, die das Kino anödet und die sich bewusst machen, dass die eigentliche wirkliche Kunst darauf beruht, durch jede ihrer Gesten mit dem Unendlichen in Verbindung zu stehen, dazu treiben, sich wieder dem Theater zuzuwenden.“

Diesen zehnjährigen Prozess Artauds mit und gegen das Kino – einer der aufregendsten Prozesse der Filmgeschichte – auf allen Ebenen nachvollziehbar zu machen, ist das entscheidende und kaum zu überschätzende Verdienst der just erschienenen, allerdings schon lange, viel zu lange in der Warteschleife des Verlags verharrenden Ausgabe der „Texte zum Kino“. Herausgegeben, übersetzt und bestens kommentiert sind sie von Bernd Mattheus in seiner letzten Arbeit für den Verlag Matthes & Seitz, bevor er 2009 viel zu früh verstarb; konzipiert war der Band noch im Rahmen des alten Matthes & Seitz Verlages München in Zusammenarbeit mit Axel Matthes selbst. Akribisch und mit der langen Kenntnis, die wohl nur ein Artaud-Biograf seines Formates haben konnte, hat Mattheus in diesem Band alles versammelt, was im Umkreis von Artauds cinematografischen Erfahrungen und Erkenntnissen aufzufinden ist: die Drehbücher, die theoretischen Texte, die Korrespondenzen mit Abel Gance, mit Yvonne und René Felix Allendy, mit Jean Paulhan und die Interviews; nur den wichtigen Briefwechsel mit Génica Athanasiou muss der interessierte Leser aus dem Einzelband der Werkausgabe hinzuziehen. Der ausführliche Kommentar schließt – mit Sachhinweisen, mit Querverweisen und reichlich hochinteressanten Materialien Dritter – die Brüche, die sich zwischen den heterogenen Texten und Textformen auftun. Und macht nochmals schmerzlich die Lücke spürbar, die Bernd Mattheus hinterlassen hat.

Warum der gut gesetzte Band – der elfte Band der Artaud-Werkausgabe bei Matthes & Seitz – so kleingedrungen und nachtschwarz, wie er ist, den zehn schmucken, hochaufgeschossenen Vorgängern im Regal wie der Glöckner von Notre Dame zur Seite stehen muss, hat sich mir nicht erschlossen. Handlich aber ist er und chic. Auf den Bildteil allerdings, den Bernd Mattheus dem Band evidenter Maßen beizugeben plante, hat der Verlag leider verzichtet. Ansonsten aber gilt: Artauds „Texte zum Film“ dokumentieren nicht nur die umfassendste Auseinandersetzung mit dem Kino, die es im inneren Kreis des Surrealismus gegeben hat, sondern lassen ein existentielles Ausdrucksbegehren nachlesbar werden, das sich unvergleichlich rückhaltlos der Gefahr der Selbstzerstörung preisgegeben hat. Eine Morphiumspritze unter die Haut. Verbeugung.

P.S.: Dulacs „Clergyman“-Verfilmung, Poiriers „Verdun“ und Pabsts „Dreigroschenoper“ (auch in der französischen Fassung) sind in der Stummfilm-Reihe von absolut Medien greifbar. Abel Gance‘ „Napoleon“ ist bei Arthouse erhältlich

Titelbild

Antonin Artaud: Schriften zum Film.
Übersetzt aus dem Französischen von Bernd Mattheus.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011.
310 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783882216127

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