Ein wichtiger Schritt

Anke Gilleir und Barbara Hahn haben einen Tagungsband über die Grenzgängerin Margarete Susman herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einem etwas breiteren literatur- und kulturgeschichtlich interessierten Publikum dürfte Margarete Susman wohl vor allem als Autorin der noch immer lesenswerten Studie über „Frauen der Romantik“ aus dem Jahre 1929 geläufig sein. Forschenden, die sich auf bestimmte AutorInnen oder literarische Epochen spezialisiert haben, werden zumdem weitere Werke der Philosophin, Literatur- und – wie man zumindest heute sagen würde – Kulturwissenschaftlerin kennen. So kommen Kafka-ExpertInnen kaum um die Rezeption ihres Essays „Das Hiob-Problem bei Kafka“ herum und Expressionismus-Forschenden ist noch immer ihr 1918 veröffentlichtes Buch über diese literarische Epoche zur erhellenden Lektüre zu empfehlen. Ihre vielleicht fruchtbarste Erkenntnis liegt allerdings auf dem Gebiet der Literaturtheorie, war sie es doch, die den Begriff des „lyrischen Ichs“ prägte und den Unterschied zwischen diesem und dem Autor-Ich entwickelte, ohne den die Disziplin heute nicht mehr denkbar ist. Nahezu vergessen sind hingegen die Schriften, in denen sich die Theoretikerin mit der Frauenbewegung befasst. Allerdings gilt das nicht nur für diese, sondern überhaupt für das Gros ihres breitgefächerten Œuvres, zu dem neben kultur- und literaturwissenschaftlichen Arbeiten zahlreiche feuilletonistische Texte – vornehmlich – für die „Frankfurter Zeitung“, aber auch Gedichte zählen. Nicht einmal eine Susman-Forschung gibt es, wie Anke Gilleir bedauernd konstatieren muss. Sie tut dies in einem von ihr und der ausgewiesenen Susman-Kennerin Barbara Hahn herausgegeben Band über die so überaus vielseitige Autorin.

Dieser Band geht auf Vorträge der im Sommer 2009 an der „Katholieke Universiteit Leuven“ durchgeführten Tagung „Margarete Susman. Grenzgänge zwischen Dichtung, Philosophie und Kulturkritik“ zurück, deren Titel er übernommen hat.

Gilleir selbst eröffnet ihn mit einem Beitrag zu Susmans „Gedanken über Kultur im Schatten des Erstens Weltkriegs“. Mitherausgeberin Hahn beleuchtet die „Begegnung“ der Kulturwissenschaftlerin mit den Büchern des ebenso bekannten wie berüchtigten Misogyn Otto Weininger und dem weit weniger bekannten und alleine schon darum auch gar nicht berüchtigten Philosophen Aron Gurewitsch, die nicht nur beide bei Richard Avenarius promovierten, sondern deren Biografien Hahn zufolge einige weitere Parallelen aufweisen. Ihre „geistigen Schicksalslinien“ – wie die Autorin Susman zitierend formuliert – unterschieden sich jedoch grundlegend. Hahn geht nun der Frage nach, warum sich Susman Gurewitschs „seltsamem Buch“ mit dem Titel „Zur Grundlegung der Synthese des Daseins“ „nicht direkt nähern“ konnte, sondern den Umweg über die Beschäftigung mit Weiniger wählte.

Eine weitere ausgewiesene Susman-Kennerin, Ingeborg Nordmann, zeichnet deren „Dialoge mit Martin Buber und Franz Rosenzweig“ nach. Auch Martin Brasser wendet sich „Susmans Lektüre von Franz Rosenzweigs ,Stern der Erlösung‘“ zu. Ebenfalls mehrfach beleuchtet wird Susmans Auseinandersetzung mit dem biblischen Hiob, mit dem Gott und der Teufel bekanntlich ihr böses Spiel in Form einer Wette trieben. Lydia Koelle nimmt Susmans Bearbeitung der „Hiobsfrage“ nach „Theodizee und Schicksal“ in den Blick, Eveline Goodman-Thau deren „Memoiren und Hiobreflexionen“ und Gesine Palmer die „Hiobinterpretation“ der jüdischen Intellektuellen, wobei sie in der biblischen Figur den „ersten freien Menschen der Weltliteratur“ ausmacht und in Susmans ihm gewidmeten Buch „eine Plage in einem guten Sinn“. Überhaupt prägen theologische und judaistische Fragestellungen weite Teile des Bandes. Wenn etwa die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Christine Kanz zeigt, wie „grundlegend“ die Beschäftigung mit der Psychoanalyse und deren Theorien für Susman war, so gilt dies nicht nur in Hinblick auf deren „eigene Person“ und die Literatur anderer AutorInnen, sondern auch – und vielleicht nicht zuletzt – für ihre „Auseinandersetzung mit dem Judentum“. Beschlossen wird der Band von Ulrike Prokop, die Susmans „Deutung“ der „großen Liebe“ zwischen Goethe und Charlotte von Stein einer Re-Lektüre unterzieht.

Die Aufsätze der aus Disziplinen wie der Geschichts-, Erziehungs- und Literaturwissenschaft, vor allem aber aus der Judaistik und der Theologie kommenden Beitragenden lassen die Vielfalt von Susmans Wirken eher erahnen, als dass sie ihr Schaffen in all seinen Aspekten abdecken könnten. Verwundern kann dies allerdings nicht. Denn dazu dürfte ein Tagungsband schwerlich imstande sein. Noch weniger wird er die Lücke schließen können, die von einer allererst zu entwickelnden Susman-Forschung zu füllen wäre. Mit dem vorliegenden Band aber wurde zweifellos ein erster, notwendiger Schritt hierzu getan. Es steht zu hoffen, dass Weitere nicht lange auf sich warten lassen werden.

Titelbild

Anke Gilleir / Barbara Hahn (Hg.): Grenzgänge zwischen Dichtung, Philosophie und Kulturkritik. Über Margarete Susman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
268 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835310919

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