Vertrieben im eigenen Land

Die kroatische Autorin Ivana Bodrožić erzählt von einem jungen Mädchen zwischen Vertreibung und Pubertät

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zehn Jahre ist es her, dass die jugoslawischen Völker übereinander herfielen. Auf einmal war Schluss mit den Gemeinsamkeiten, stattdessen wurden noch so kleine Unterschiede hoch und heilig gehalten. Im Herbst 1991 griffen serbische Freischärler das kroatische Vukovar an. Während Frauen und Kinder flohen, blieben die Männer zurück, um die Stadt zu verteidigen. Bis heute gelten viele von ihnen als vermisst, weil es von ihnen nicht einmal eine Leiche gibt. Davon erzählt Ivana Bodrožić in ihrem Roman „Hotel Nirgendwo“.

Die Erzählerin ist neun Jahre alt, als sie und ihr Bruder mit anderen Kindern in die „Ferien“ ans Meer fährt. Sie sehen das Meer zum ersten Mal, in ihre Unbeschwertheit aber mischt sich leise Beklommenheit. Zuhause droht ein Krieg. Bald kommt auch die Mutter nach, nur der Vater, den sie nie mehr sehen werden, bleibt in Vukovar zurück. Er bleibt als Freiwilliger, deshalb wird die Mutter später darum kämpfen müssen, in den ,Genuss‘ einer Kriegsrente zu kommen.

Mutter und Kinder können nicht mehr zurück. Nach beengenden Aufenthalten hier und dort bei Verwandten erhält die Familie schliesslich ein Zimmer in einer ehemaligen Parteikaderschule in den Bergen ausserhalb von Zagreb zugewiesen: im „Hotel Zagorie“ (Hotel Nirgendwo), das zu einer Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert wurde. Da sind sie nun gestrandet, im eigenen Land Vertriebene, mittellos und vaterlos und ohne Aussicht auf eine eigene Wohnung.

Bodrožić lässt ihre Erzählerin mit nüchterner Zurückhaltung berichten. Diese erlebt die Not am eigenen Leib und nimmt sie doch nicht recht wahr. Der Krieg ist für die Jugendliche weit weg, sie weiss wenig Genaues darüber, außer, dass der Vater die Heimatstadt verteidigt. Schule, Nachbarskinder, verborgene Liebschaften aber sind ebenso wichtig. So geraten im Fluss ihrer Erzählung die Nöte des Vertriebenendaseins – worunter besonders die Mutter leidet – ständig in Konflikt mit der aufkeimenden Pubertät. Die Erzählerin mag sich nicht auf später vertrösten, wenn sie jetzt etwas haben möchte – ja haben muss. Listig versteht sie sich darauf, der Mutter abzuschwatzen, was ihr Modeherz begehrt. Auch der Besuch der Disco „Oase“ wird seufzenden Herzens bewilligt. Am besten gelingt das Bitten, wenn sich ihre Mutter vor Müdigkeit nicht mehr zu wehren weiß.

Sie kämpft an allen Ecken gegen die Bürokratie, um eine Arbeit oder mit der Erziehung ihrer Kinder. Dabei beweist sie einen unbändigen Willen, um endlich aus der Misere herauszufinden und endlich, endlich eine Wohnung zu finden, als Entschädigung für die eigenen Kriegsopfer. Selbst ihren Mann, der auch nach Jahren ohne Leiche als spurlos vermisst gilt, gibt sie nicht ganz auf.

Aus der Optik des heranwachsenden Mädchens bekommt das Geschehen eine eigene Färbung, im mal sachlich anschaulichen, mal tändelnden Erzählton wird eine Doppelbödigkeit spürbar, die unmerklich aufbricht und die drohenden Abgründe erahnen lässt. Symptomatisch dafür ist die erste Liebelei mit einem netten Jungen. Als dieser die Erzählerin nach dem Vater fragt, gibt sie zurück, dass er verschwunden sei: „,So halt. Im Krieg. Verschwunden‘ – ,Ach, das meinst du.‘ Endlich hatte er begriffen. Dann küsste er mich und sagte, dass er sich melden würde. Darauf warte ich immer noch.“ Liebe und Leid überkreuzen sich in dem kurzen Moment und lösen sich in der Liebelei auf, auch wenn diese nichts heil zu machen vermag. Die beiden Dinge geraten wenig später unter anderen Vorzeichen nochmals aneinander. Die mit einem ersten Kuss besiegelte Verbindung zu dem Jungen zerbricht in der Disco. Die Erzählerin mutet sich deshalb einen Drink zuviel zu, woraus ein schrecklicher Rausch mit Schwindel und Kotzen resultiert. Im wild sich drehenden Kopf kullern Traum und Vorstellung durcheinander – auf einmal steht der Erzählerin das Schicksal des Vaters vor Augen: „Mein Vater befindet sich irgendwo in der Mitte des Raumes, sein Kopf ist im Schlamm vergraben. Er hat noch keine Angst. Er weiss nur, dass etwas zu Ende geht …“ Von der Folter und den Hinrichtungen kann die Erzählerin nichts wissen, höchstens erahnen. Die Autorin hilft ihr mit dem eigenen, später gewonnenen Wissen aus, um zu signalisieren, dass die scheinbare Unbekümmertheit der Heranwachsenden auf unsicherem Grund schwebte.

Was hier als innere Schau eindrücklich und beklemmend gelingt, erzeugt in alltäglicheren Passagen hin und wieder kleine Verwerfungen, die in der Stimme der Erzählerin die Optik der Autorin verraten. Von Einzelfällen abgesehen gelingt es Bodrožić dennoch glaubhaft und konsistent, die Perspektive der jugendlichen Erzählerin zu wahren und aus ihrer Optik auszublenden, was sie nicht wissen kann und vor allem nicht wissen will. Das ist ohne Larmoyanz und Schwere erzählt, und doch immer unterfüttert mit dem Leid und der Beklemmung. Im steten Verdrängen und Vergessen liegt hin und wieder sogar ein Moment der feinen Komik. Letztlich obsiegt der Wille zu leben.

Es ist nicht ihr Krieg, fordert die Erzählerin. Darin ist sie unbeugsam. Weil sei eine gute Schülerin ist, darf sie sich eine Mittelschule in Zagreb auswählen. Und wenig später haben auch die mütterlichen Versuche Erfolg und die Familie bekommt eine Wohnung zugewiesen. Es kommt alles gut. Doch mit wenigen Strichen deutet Bodrožić an, dass auch dieses Glück vergänglich ist und nicht anhalten wird. Sich vom Unglück loszumachen, ist nicht leicht, „so einfach ist das“.

Titelbild

Ivana Bodrozic: Hotel Nirgendwo. Roman.
Übersetzt aus dem Kroatischen von Marica Bodrozic.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012.
221 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783552055612

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