Heilsame Erfahrung der Ohnmacht
Erlebnisse eines Bankkunden und Kleinaktionärs
Von Dirk Kaesler
Die Vorgeschichte
Noch vor meiner Geburt wurde für mich ein Sparbuch bei der „Dresdner Bank“ angelegt. Ab da waren für mich „Bank“ und „Dresdner Bank“ ein und dasselbe: Die ganze Familie ging zur „Dresdner“ und hatte dort ihre Konten.
Auch ich bin bei dieser Bank geblieben, nie hatte ich ein Konto bei einer anderen. Zwar wechselten die zuständigen Filialen von Station zu Station, auch die jeweiligen Ansprechpartner kamen und gingen, aber nach einiger Zeit fühlte ich mich immer wieder als „Stammkunde“ und wurde auch so behandelt: Einige der Menschen hinter dem Schalter wussten sogar meine Kontonummer auswendig, den jeweiligen Menschen hinter dem Auszahlungsschalter kannte ich zumeist so gut, dass ein kurzer Wortwechsel über das Wetter, den zurückliegenden oder bevorstehenden Urlaub und die gut bewältigte Erkältung obligatorisch war.
Irgendwann in den 1990er-Jahren änderte sich das alles. Mal für Mal stand ein anderer, zumeist sehr junger Mensch mit aufgegelten Haaren hinter dem Schalter, der erkennbar unsicher in seinem Anzüglein steckte. Immer wieder aufs Neue wurde ich nach der Kontonummer gefragt, musste die Bankkarte vorlegen, häufig auch den Personalausweis. Ich wurde nicht anders begrüßt und behandelt als jener Passant, der einmalig wegen des Umtauschs für die Parkuhr in die jeweilige Filiale gekommen war.
Nur sehr am Rande verfolgte ich das Wohlergehen „meiner“ Bank. Ich wusste, sie war die drittgrößte Bank Deutschlands, ihre Zentrale lag in Frankfurt am Main – der 1978 erbaute, sogenannte „Silberturm“ überragte sogar die Gebäude der „Deutschen Bank“. Sie hatte sich das „Grüne Band der Sympathie“ angelegt, das von dem begnadeten Designer Otl Aicher entworfen worden war. Ich war entsetzt, als der damalige Vorstandssprecher Jürgen Ponto am 30. Juli 1977 von Terroristen der RAF in seinem Haus in Oberursel ermordet wurde, und ich schüttelte den Kopf, als der ehemalige Vorstandssprecher und frühere Bundeswirtschaftsminister Jürgen Friderichs wegen Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung im „Flick-Parteispendenskandal“ angeklagt wurde. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands empfand ich es nur als gerechtfertigt, dass sich die „Dresdner Bank“ wieder in ihrer Ursprungsregion stark engagierte und vor allem den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche mitfinanzierte.
Ich empfand es auch darum als überaus gerechtfertigt, als mir erst durch die Berichterstattung über die Publikation der vier Bände des Forscherteams um den Historiker Klaus-Dietmar Henke über „Die Dresdner Bank im Dritten Reich“ im Jahr 2006 und durch die eigene Lektüre des zusammenfassenden vierten Bandes deutlich geworden war, dass gerade „meine Bank“ ganz besonders maßgeblich an der Verfolgung und Deportation von Juden mitbeteiligt gewesen war, den Bau des Konzentrationslagers Auschwitz finanziert hatte und als „Hausbank der SS“ stark von der Ost-Expansion des Deutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg profitiert hatte.
Der kleine Kunde dieser Bank erlebte ab März 2000 eine nicht unerhebliche Fahrt auf der Achterbahn des Kapitalismus: Noch heute bewahre ich jenes Mitteilungsschreiben auf, das mich darüber informierte, dass die „Deutsche Bank“ und die „Dresdner Bank“ eine „noch leistungsstärkere Bank-Gruppe“ bilden würden, von der ich „als Kunde auf jeden Fall profitieren“ werde. Die neue Bank werde „eine der führenden europäischen Banken mit herausragender globaler Plattform sein.“ Das neue Institut werde den Namen „Deutsche Bank – Die Beraterbank“ tragen und die grüne Farbe der „Dresdner Bank“ werde den optischen Auftritt bestimmen.
Die seitens „meiner“ Bank in diesem Schreiben formulierte Vorfreude auf die „weiterhin angenehme und erfolgreiche Zusammenarbeit“ schien schnell verpufft zu sein: Im Juli 2001 wurde die „Dresdner Bank“ von der „Allianz AG“ für 24 Milliarden Euro übernommen, die sie im August 2008 an die „Commerzbank AG“ für insgesamt 9,8 Milliarden Euro verkaufte, die als „sichtbares Zeichen des Zusammenwachsens“ das Logo der „Dresdner Bank“ – das nach Jürgen Ponto benannte „Ponto-Auge“ – übernommen hat, jedoch nun gelb eingefärbt hat.
Am 11. Mai 2009 wurde die „Dresdner Bank AG“ mit der „Commerzbank AG“ endgültig fusioniert und existierte auf einmal nicht mehr. Plötzlich war ich zwangsweise Kunde der „Commerzbank“, die Filialen wurden umdekoriert oder geschlossen. Als die „Commerzbank“ im Frühjahr 2010 große Teile der umfangreichen Kunstsammlung der „Dresdner Bank“ verkaufte – unter anderem das Meisterwerk von Alberto Giacometti „L’Homme qui marche“ für umgerechnet 104 Millionen US-Dollar – schüttelte ich wieder den Kopf. Dafür macht sie jetzt Werbung mit Fußballern, die sicher auch dafür viel Geld bekommen, und sie offeriert jedem, der ein neues Konto bei ihr anlegen will, ein Startguthaben von 50 Euro und eine kostenlose Kreditkarte. „Meinen“ ehemaligen Filialleiter der „Dresdner“ gibt es auch noch, er sagt halt jetzt „Commerzbank“ am Telefon und seine Email-Adresse ist auch geändert. Ich sehe ihn ohnehin kaum mehr, das Internet-Banking erweist sich durchaus als praktisch, auch wenn das System der „Commerzbank“ anfangs sehr viel weniger bedienerfreundlich funktionierte als das der „Dresdner“.
Der Klein-Aktionär
Im August 2011 kaufte ich einige Aktien „meiner“ alt-neuen Bank zu einem Kurs von 2,26 Euro. Das schien mir damals als günstig und sinnvoll, angesichts der Tatsache, dass dieser Kurs dereinst – zum Beispiel im Mai 2008 – bei 18,67 Euro gelegen hatte, von dem Kurs von 35 Euro im Mai 2001 ganz zu schweigen. Es war mir nicht vorstellbar – und mein Filialleiter trägt keine Schuld an diesem spontanen Kauf – dass dieser Kurs noch tiefer fallen könnte. Er konnte und er tat es: Am Tag, als ich diese Glosse abschickte, lag er bei 1,39 Euro. Ich habe nicht viel angelegt und somit auch nicht viel verloren, und ich kann warten.
Aber, diese kleine Anlage brachte einen ganz großen Gewinn: Zum ersten Mal in meinem Leben nahm ich als Aktionär teil an einer „ordentlichen Hauptversammlung“. Sie fand statt am 23. Mai 2012 ab 10 Uhr in der Jahrhunderthalle Frankfurt in Frankfurt-Höchst.
Schon auf dem S-Bahnhof stauten sich die Menschen, im Pendelbus war es nicht viel angenehmer, die Einlassprozeduren waren ähnlich strapaziös wie am Flughafen, endlich erreichte ich den Kuppelsaal. Dieses Zentrum der „Jahrhunderthalle“ – benannt nach dem hundertjährigen Bestehen der Farbwerke Hoechst – ist eine große Konzert- und Kongresshalle, Mitte der 1950er-Jahre entworfen von dem Architekten Friedrich Wilhelm Kraemer. Sie fasst bei voller Auslastung knapp 5.000 Personen. Es war voll, übervoll, der Kampf um die Plätze ebbte ab, als pünktlich um 10 Uhr der Gong ertönte.
Das Wort ergreift Klaus-Peter Müller, der Vorsitzende des Aufsichtsrats der „Commerzbank AG“, mein Jahrgangsgenosse. Nach seiner Banklehre in den 1960er-Jahren kam er im Jahr 1966 zur „Commerzbank“ und machte in ihr eine steile Karriere; obwohl er nie studiert hat, firmiert er heute als Honorarprofessor an der „Frankfurt School of Finance & Management“, die Laudatio bei der Verleihung des Titels hielt der Bundespräsident a. D. Roman Herzog. Von Ferne erinnert Herr Müller an Theo Zwanziger, den ehemaligen Präsidenten des Deutschen Fußballbundes, das Doppelkinn dokumentiert den guten Ernährungsstand, die Stimme mit dem rheinischen Klang berichtet von personellen Veränderungen, mir unbekannte Namen werden genannt, es ist langweilig. Die Augen gewöhnen sich an das Dämmerlicht und können das Personal auf der Bühne allmählich genauer betrachten. Dort sitzen viele Männer in dunklen Anzügen, die meisten mit etwas sehr breitem Scheitel, hineingesprenkelt sieht man Farbtupfer in knallrot, gelb und grau: Ich erkenne insgesamt vier Frauen. Von diesen erhöht sitzenden Menschen schaut keiner zum Redner, alle starren nach unten: Lesen sie, arbeiten sie Akten auf, lösen sie ein Sudoku, spielen sie mit ihrem Handy? Hören sie überhaupt zu?
Plötzlich wird es etwas lebhafter, Herr Müller erwähnt die Aufhebung der Deckelung der Bezüge des Vorstands – davon war in den Zeitungen zu lesen gewesen: Das „gedeckelte“ Grundgehalt des Vorstandsvorsitzenden, Martin Blessing, war Anfang Mai 2012 von 500.000 Euro auf 1,3 Millionen Euro plus leistungsabhängige Boni (in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ geschätzt auf zusätzliche 2,2 Millionen Euro) angehoben worden – und Herr Müller bringt es fertig, dabei von „erlittenen Einkommensverlusten“ des Vorstands zu reden. Man hört Empörungsrufe, der Herr Aufsichtsratsvorsitzende lässt sich nicht aus der Ruhe bringen: „Ich sorge mich schon jetzt um Ihre Stimmbänder, Herr Mayer.“: Man scheint sich zu kennen. Neben mir ertönen Rufe: „Mayer raus!“ Am Tag danach lese ich in der Zeitung, dass Herr Richard Mayer ein Aktionär aus München ist, der die Herren Blessing und Müller seit Jahren als „absolute Kapitalvernichter“ von insgesamt 21 Milliarden Euro öffentlich beschimpft.
Ich komme mir vor wie in einer beliebigen Sitzung des Fakultätsrats: Ein Ritual wird abgespult, der Vorsitzende liest seinen vorbereiteten Text von den vor ihm aufgebauten Bildschirmen ab, der Rest der Fakultätsmitglieder ist nur physisch anwesend, ein szenebekannter Störenfried wird ignoriert. Es gibt ein Geschehen auf der Bühne, auf der die Mitglieder des Aufsichtsrats und des Vorstands sitzen, und eines davor und darunter: Dort sitzen jene Menschen, die ein Teil ihres Geldes diesen Menschen dort vorne und oben anvertraut haben.
Exakt nach 30 Minuten erteilt Herr Müller das Wort Herrn Blessing. Der 48-jährige Bremer bietet ein visuelles Kontrastprogramm zum gemütlichen Rheinländer Müller: schlank, sportliche Erscheinung, alles andere als gemütlich, eher forsch. So ist dann auch sein Lagebericht: Nach tausend Tagen ist die Integration der „Dresdner Bank“ erfolgreich abgeschlossen, es gibt die „Commerzbank“ nun an 1.200 Filialen, man zählt 16 Millionen Kunden, die Sache mit den Griechenlandanleihen war schwierig, man hat 2,2 Milliarden abschreiben müssen, die Bank hat einen Großteil der Staatshilfen zurückgezahlt, eine Kapitallücke von 5,3 Milliarden Euro wurde „aus eigener Kraft“ geschlossen, die Bank ist „in stabiler Verfassung“, natürlich ist die Entwicklung der Aktie „nicht befriedigend“, eine Dividende kann jedoch für 2013 in Aussicht gestellt werden, 80 Prozent der außertariflichen Bankmitarbeiter haben dankenswerterweise das Angebot angenommen, einen Teil ihrer Bezüge durch Aktienanteile vergütet zu bekommen, was ein Zeichen hoher Unternehmensloyalität sei. Der stumme Kleinaktionär sinniert darüber, wie gewollt diese „Freiwilligkeit“ der Mitarbeiter wohl war, und was jenen blüht, die nicht so „freiwillig“ waren.
Insgesamt strahlt Herr Blessing – dessen Großvater Präsident der Bundesbank und dessen Vater Mitglied des Vorstands der Deutschen Bank gewesen war – ein Selbstbewusstsein aus, das bemerkenswert ist. Ich kenne diesen Habitus: Die meisten meiner ehemaligen Studierenden, die zur Unternehmensberatung McKinsey gegangen sind, haben ihn erlernt. Der nichtpromovierte MBA der University of Chicago, Martin Blessing, war von 1989 bis 1996 einer der „Mäckis“ gewesen, zuletzt sogar Partner. Seine weiteren Stationen: Geschäftsbereich Private Kunden bei der „Dresdner Bank“, Vorstandssprecher der „Advance Bank“, seit November 2001 Vorstandsmitglied der „Commerzbank“, seit Mai 2008 Vorstandssprecher, seit Mai 2009 Vorstandsvorsitzender. Kein Wunder, dass der Mann mit sich selbst zufrieden ist. Wären solche Karrieren wie die der Herren Müller und Blessing heute noch möglich?
„Abkündigungen“ und „Predigt“ sind vorbei, die beiden Herren sitzen wieder, Herr Müller fordert zu Wortmeldungen auf, teilt zugleich mit, dass ihm bereits 30 davon vorlägen, er müsse darum eine Redezeit von 10 Minuten vorgeben. Ich werde hier drei Typen von Redner-Auftritten skizzieren.
Erstens, die Profis, vor allem die Sprecher der Aktionärsvereinigungen. Großartig war Klaus Nieding, Rechtsanwalt aus Frankfurt, Vizepräsident der „Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e.V.“: Präzise und sachlich hielt er den Menschen auf der Bühne vor Augen, was es bedeutet, wenn jemand eine Aktie für 18 Euro gekauft hat, die nur wenige Jahre später nur mehr 1,5 Euro wert ist. Bald danach kam Herr Karl-Walter Freitag, ein erwartungsvolles Raunen ging durch den Saal: Geben Sie diesen Namen bei „Google“ ein und Sie wissen, wer dieser Berufsaktionär und Berufskläger ist. Der „Spiegel“ berichtet davon, dass er Millionen mit seinen juristischen Feldzügen gegen Aktiengesellschaften gemacht habe, er wird als „Putzerfisch“ der Unternehmen bezeichnet.
Als „Aktionär Riebeck-Brauerei von 1862“ aus Wuppertal hatte er fristgerecht „Antrag auf Vertrauensentzug gegenüber dem Vorstandssprecher Herrn Martin Blessing“ gestellt, der als TOP 11 der Tagesordnung aufgenommen worden war. Mündlich trägt er den ganzen langen Begründungs-Text vor (der eigentlich allen Aktionären vorab hätte gedruckt zugehen müssen, was nach Herrn Freitag jedoch nicht geschehen sei und er ihn aus juristischen Gründen daher vollständig vortragen müsse, ungeachtet der begrenzten Redezeit) und strapaziert damit erkennbar die Geduld des Versammlungsleiters Müller, sorgt aber auch für Zwischen-Applaus und Heiterkeit. Herrn Freitags Parolen wie „Nordkoreanische Stimmenmehrheit“, „ertragsmäßige Inkontinenz“, „unternehmerisches Desaster“, „verschlampter Laden“, „Ihre Schönrednerei und Ihre Selbstüberschätzung gehen mir allmählich wirklich auf den Senkel“, sorgen für Stimmung im Saal. Es lohnt sich, sowohl diesen Antrag zu lesen als auch die kühle Stellungnahme von Vorstand und Aufsichtsrat dazu.
Zweitens, die moralischen Ankläger. Am beeindruckendsten waren die Wortmeldungen von Werner Huffer-Kilian, Pastoralreferent im Bistum Trier der Katholischen Kirche, der der „Commerzbank“ vorwarf, an Menschenrechtsverletzungen beim Kohleabbau in Kolumbien indirekt beteiligt zu sein, an der Umweltbeschädigung beim Braunkohleabbau mitzuwirken und sich bei der Atomwaffen-Industrie zu engagieren, sowie der Auftritt eines US-amerikanischen Umweltschützers, der in sachlichem Ton über das Engagement der „Commerzbank“ beim Mountaintop Removal Mining in den Appalachian Mountains berichtete und die „Commerzbank“ aufforderte, dem Vorbild der schweizerischen UBS zu folgen und ihr finanzielles Engagement zu beenden.
Hatten die Herren auf der Bühne bei den Wortmeldungen der ersten Gruppe noch eher müde gelächelt oder abgewunken, so saßen die Herren Müller und Blessing bei den Wortmeldungen der zweiten Gruppe wie die geprügelten Knaben auf der Arme-Sünder-Bank.
Zur dritten Gruppe zähle ich die Opfer: Jener ehemalige Mitarbeiter bei der „Dresdner Bank“, der davon berichtet, dass den Pensionären dieser untergegangenen Bank – den „Grünen“ im Gegensatz zu den „Gelben“ – das Weihnachtsgeld von bislang 50 Euro ersatzlos gestrichen worden sei, oder jenes Ehepaar, das vor Jahren Anteilsscheine von verstorbenen Verwandten geerbt haben: „Ich kann es nicht beurteilen, ob Commerzbank-Chef Blessing ein Kapitalvernichter ist. Bei unserem Aktienpaket können wir eh nur hier essen und trinken, Einfluss haben wir nicht.“
Die Antworten, die von der Bühne auf alle diese Fragen gegeben wurden, kann man nur als enttäuschend bezeichnen. Schon während der Fragen selbst fiel mir auf, dass die Herren sich keinerlei Notizen machten: Wie wollten sie denn diese vielen und teilweise sehr komplizierten Fragen beantworten, fragte ich mich. Mein sehr viel erfahrener Nachbar klärte mich auf: Hinter der Bühne sitzt eine ganze Schar junger Führungskräfte, die die Fragen notieren und die Antworten darauf vorbereiten, so können sie sich für künftige Aufgaben profilieren. Junge Hostessen trugen orangene Mappen nach vorne, die Herren Müller und Blessing lasen die vorbereiteten Statements vor. Sie lapidar zu nennen, wäre nicht übertrieben. „Die Rahmenbedingungen für unser Geschäft bleiben bis auf Weiteres herausfordernd“, sagt Herr Blessing.
Das soll nun auch mein Schlusswort sein für diesen Bericht. Gegessen habe ich die abgezählten 2 Eier mit den 5 Mini-Kartoffeln und der Grünen Sauce und getrunken zwei Glas Mineralwasser. Die Fahrt mit der S-Bahn und dem Pendelbus waren umsonst, ich erhielt eine Jutetasche mit dem Aufdruck „Gemeinsam mehr erreichen. Achieving more together.“, einen Kugelschreiber, jeweils als Schlüsselanhänger einen kleinen gelben Plastik-Elefanten und eine LED-Taschenlampe auf Solarbasis, einen karierten A4-Schreibblock, jeweils ein Päckchen Gummibären und Pfefferminz-Tabletten.
Vor allem aber habe ich gewonnen! Und zwar die Einsicht, dass sogar ein Repräsentant von 10 Millionen Aktien, von denen mir der Rechtsanwalt Klaus Nieding berichtete, keinerlei Einfluss auf das Geschäft dieser Bank hat. Ich war klug genug, mein „funkgestütztes Abstimmungsgerät“, den „teleVoter“, nicht zu aktivieren und mich an der Farce der Abstimmungen nicht zu beteiligen. Die Aktionärsstruktur weist die wahren Machtverhältnisse aus: 65 Prozent aller derzeitigen 5. 113. 400. 000 Commerzbank-Aktien – sprich 5 Milliarden 113 Millionen und 400 Tausend Aktien – befinden sich im Besitz von „institutionellen Investoren“, dazu kommt der Bund mit 25 Prozent der Aktien (plus eine Aktie!), dann kommen Großaktionäre wie „BlackRock“ und die „Allianz“, und dann kommen 2 Prozent von „privaten Investoren“. In der Hoechster Jahrhunderthalle versammelten sich gewiss nicht einmal diese 2 Prozent der sogenannten „Klein-Aktionäre“, selbst die Aktionärsvereinigungen können den Geschäftsgang nicht beeinflussen, allenfalls die Stimmung auf der Bühne.
Für den Novizen in Sachen Hauptversammlung bemerkenswert war jedenfalls die Tatsache, dass anscheinend alle sich zu Wort melden dürfen, bis 12:30 Uhr waren 44 Wortmeldungen eingegangen, bis 15 Uhr waren gerade mal 18 abgearbeitet worden, und als ich ging, war kein Ende abzusehen; rechtlich – so ließ mich mein kluger Nachbar wissen – muss die Tagesordnung an dem einen Tag abgearbeitet worden sein, also konnte das bis Mitternacht gehen. Darum gab es wohl keine allgemeine Mittagspause, die Damen und Herren auf der Bühne bekamen in regelmäßigen Abständen Kaffee serviert und schoben sich Essbares in den Mund, dem Publikum war es untersagt, Essen und Trinken in den erheblich überhitzten Saal zu bringen.
Für den Novizen in Sachen Aktien bleiben gerade nach diesem bemerkenswerten Spektakel zahlreiche Fragen: Warum betreibt die „Commerzbank“ eine derart exzessive Ausgabe von Aktien zur Kapitalerhöhung – ein Zwischenrufer: „Für jeden Weltbürger zwei Commerzbank-Aktien!“ – und steuert damit absichtlich die drastische Kursverwässerung an? Warum unterstützen die „institutionellen Investoren“, der Bund und die anderen Großaktionäre diesen Kurs, wo doch auch deren Aktien dadurch ständig an Wert verlieren? Wieso kauft die „Commerzbank“ in der gegenwärtigen schwierigen Lage die „Deutsche Schiffsbank AG“, worüber es im Geschäftsbericht heißt, dass die Parteien Stillschweigen vereinbart haben? Wieso trägt der „Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung“ (SoFFin) der „Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung“ (FSMA), also der Bundesminister der Finanzen, also letzten Endes diese Bundesregierung, das alles mit? Wieso können die Herren Müller und Blessing derart siegesgewiss mit der Unterstützung des „SoFFin“ rechnen, so dass Anträge von noch so vielen Kleinaktionären auf Abberufung wie ein lästiger Zwischenruf behandelt werden können? Ist es wirklich wahr, dass nur durch die Aufhebung der „Deckelung“ der Vorstandsgehälter – eine „dauerhaft wettbewerbsfähige Vergütung“ – „ein kompetentes und leistungsfähiges Vorstandsteam“ gebildet werden kann, wie Herr Müller beschwörend ausführte?
Der Gewinn der „Commerzbank“ wird für das Jahr 2011 mit 507 Millionen Euro angegeben (vor Steuern!), als Ertragsergebnis je Aktie weist der Geschäftsbericht 2011 den Betrag von 0,18 Euro aus. Wieso dann keine Dividende gezahlt wird, verstehe nicht nur ich nicht. Aber, wie sagte schon der legendäre Bankier Carl Fürstenberg (1850-1933) so richtig und oft zitiert: „Aktionäre sind dumm und frech. Dumm, weil sie Aktien kaufen, und frech, weil sie dann noch Dividende haben wollen“.
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dirk Kaeslers monatlich erscheinenden „Abstimmungen mit der Welt“.