Neue Perspektiven auf einen Staatsdichter

Über Johann Georg Lughofers Tagungsband „Thomas Bernhard. Gesellschaftliche und politische Bedeutung der Literatur“

Von Clemens GötzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clemens Götze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Herbst 1988 war Thomas Bernhard mit Sicherheit einer der meistgehassten Österreicher. Sein kritischer Beitrag zum Bedenkjahr anlässlich des sogenannten Anschlusses Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland hatte sich, wie zu erwarten gewesen war, als besondere Provokation entpuppt: „Heldenplatz“. Mit diesem Stück war es dem Autor gelungen, wenige Monate vor seinem Ableben eine ganze Nation zu spalten – und eine längst überfällige öffentliche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit der Österreicher zu initiieren. Heute freilich haben sich die Wogen geglättet, die Provokation von einst lässt sich mit dem Abstand von über 20 Jahren deutlich relativieren und in historische Kontexte einbetten. Trotzdem ist das Interesse an Thomas Bernhards Texten nach wie vor ungebrochen und erlebte im vergangenen Jahr aufgrund seines 80. Geburtstages eine jähe Renaissance.

Dem trägt dieser umfangreiche Konferenzband anlässlich einer im Februar 2011 abgehaltenen Tagung an der Universität Ljubljana (Slowenien) Rechnung, denn er fragt genau nach jenen neuen Tendenzen in der Forschung und Rezeption des österreichischen Autors, die es jüngst zu seinem Jubiläum zu entdecken galt. Dabei ist besonders positiv hervorzuheben, dass der Herausgeber nicht nur eine Vielzahl namhafter Bernhard-Forscher für seinen Band gewinnen konnte, sondern dass die Beiträger aus sechs Nationen (von Österreich bis in die USA) stammen und somit tatsächlich ein internationaler Forschungsbericht entstanden ist.

Auf gut 450 Seiten werden über 25 wissenschaftliche Beiträge präsentiert, die ein äußerst breit gefächertes Spektrum abdecken, wie sich bereits im Titel des Bandes widerspiegelt. Hier wurde nicht zu einem abgesteckten Gebiet geforscht und diskutiert, sondern diverse Bereiche von Thomas Bernhards Schaffen ausgeleuchtet und somit ist – wie der Herausgeber in seinem Vorwort treffend formuliert – „ein facettenreiches Bild des ‚kritischen Intellektuellen‘ und Autors Thomas Bernhard entstanden“. Das hat sicherlich den Vorteil einer universellen Abbildung eines relativ gleichförmigen Œuvres. Nachteilig wirkt es sich indes auf die thematische Anordnung der Beiträge aus, bei der nicht immer ein stringenter roter Faden sichtbar wird. Dagegen ist sicher positiv anzumerken, dass am Schluss des Bandes kurze Abstracts der jeweiligen Beiträge sowie eine inhaltliche Verschlagwortung die Orientierung für den Leser deutlich erleichtern. Es bleibt zu hoffen, dass sich diese Vorgehensweise zukünftig in weiteren Projekten dieser Größenordnung etablieren wird, denn sie erleichtert die Lektüre erheblich. Benützerfreundlich ist der in seiner Aufmachung äußerst repräsentative Konferenzband daher in jedem Fall.

Bemerkenswert ist auch die Tragweite und Tiefenschärfe der einzelnen Beiträge. Einen deutlichen Schwerpunkt legen sieben Aufsätze, die den Komplex der Vergangenheitsbewältigung im Werk Thomas Bernhards diskutieren und dabei vor allem die Texte „Heldenplatz“ und „Auslöschung“ in den Blick nehmen. Überhaupt ist das Spätwerk deutlich gewichtiger vertreten; gut die Hälfte der Studien bezieht sich auf Bernhardtexte der 1980er-Jahre. Offen bleibt dabei die Frage, inwieweit dies repräsentativ für die Rezeption von Thomas Bernhards Werk 20 Jahre nach seinem Ableben ist. Es wäre sicher interessant zu klären, ob diesbezüglich vor allem ein Forschungsinteresse besteht, oder gerade diese Texte des Autors den heutigen Leser für sich einnehmen. Im Hinblick auf eine thematische Bündelung der literaturwissenschaftlichen Forschung lässt sich durchaus eine Fokussierung auf die Vergangenheitsproblematik im Spätwerk erkennen, was belegt, dass Reflexionspoetik, Herkunftskomplex und die Topografie des Schweigens noch Potenzial für ausführliche Betrachtungen birgt und längst nicht vollständig diskutiert worden ist. So liegt denn auch ein gewichtiger Fokus auf der Analyse von rezeptionsästhetischen Aspekten des Stückes „Heldenplatz“. Besonders hervorzuheben ist hierbei der Beitrag von Martin Huber, dessen „Rekonstruktion einer österreichischen Erregung“ das mediengemachte Moment dieses Skandals verdeutlicht und erklärt, wieso das Stück heute keine so mächtige Provokation mehr ist, weil es letztlich nur im Vorfeld seiner Uraufführung so massive Wirkung entfalten konnte. Unterdessen gibt Huber zu Bedenken, dass Bernhards letzte „Österreichschelte“ ja genau das erreicht hat, was heute vorherrschend sei: einen Wandel in der Beurteilung der österreichischen Vergangenheit, der mittlerweile Konsens geworden ist. Wer sich nun daran erregen wollte und bedauert, dass „Heldenplatz“ heute problemlos spielbar ist, dem würde Bernhard sicher an anderer Stelle heftige Kritik zuteil werden lassen.

Was in den übrigen Beiträgen zum Bernhardjahr 2011 sonst meist zu kurz kam oder gar völlig ausgeblendet blieb, ist die Didaktisierung seines Werkes, wobei insbesondere der Beitrag des Herausgebers hervorzuheben ist. Lughofer überprüft in seinem Aufsatz die didaktische Tauglichkeit von Bernhards Texten und kategorisiert dessen Sprache, wobei er insbesondere auf den Unterhaltungswert der Bernhard’schen Komposita abhebt. Dabei ist es nicht nur interessant, zu sehen, wie Bernhards Werk äußerst funktional im Lehrkontext aufbereitet werden kann, sondern zudem höchst wichtig, dieses in den Schulen und Universitäten zu vermitteln. Es ist insofern bemerkenswert, dass sich die deutschen Lehrbücher und -pläne erstaunlich zurückhalten, wenn es um Thomas Bernhard geht; doch auch in der universitären Lehre gibt es hinsichtlich der vermittelten Bandbreite seiner Texte erhebliche Defizite, denn der Fokus liegt hier zusehens – wohl aber zu unrecht – auf der Prosa.

Dies verhält sich im vorliegenden Tagungsband nicht viel anders, sind doch die Beiträge zum dramatischen Werk Bernhards hier mit nur zwei Aufsätzen tatsächlich unterrepräsentiert. Dabei nimmt „Heldenplatz“ (das im Band mit vier Aufsätzen bedacht wird) im werkgeschichtlichen Kontext schon aufgrund seiner Rezeptionsgeschichte eine Sonderstellung ein. Mit Werken wie „Der Weltverbesserer“ und „Der Präsident“ werden überdies vorwiegend Dramen einer Periode in den Blick genommen, dafür allerdings in hochwertiger Ausführung. Hervorzuheben ist dabei die Arbeit von Christine Hegenbart, die das politische Potenzial von Bernhards 1975 uraufgeführten Stück „Der Präsident“ diskutiert und dessen Aktualität auslotet.

Bedeutsam wie überfällig ist die Betrachtung von Matjaž Birk über Thomas Bernhards Beziehung zu Siegfried Unseld, die im Zuge der Publikation des Briefwechsels 2009 eine wissenschaftliche Notwendigkeit geworden ist, wenn es um die Inszenierungspraktiken des Autors geht. Insofern darf diese Bestandsaufnahme als einer der ersten Beiträge zu diesem Thema natürlich nicht fehlen. Hier wird deutlich, welche strategischen Wirkungsweisen dem Autor zur Etablierung im literarischen Feld dienlich waren, und wie diese zu bewerten sind. Einen ähnlichen, argumentativen Weg beschreitet Bernhard Sorg, der mit seinem Aufsatz die Geistesaristokratie in den Figuren von „Frost“ auslotet. Die philosophische Dimension in Bernhards Werk erfährt durch Hans Höller eine intensive wie grundlegende Betrachtung, indem er Motive wie die zahlreichen Studien in Korrespondenz zum „Widerstand gegen sich selbst“ setzt und in Bernhards erzählerischer Ursachenforschung das „Gedächtnis einer verborgenen aufklärerischen Tradition in Österreich“ erkennt.

Mithin bietet der Tagungsband eine umfangreiche Themensammlung zum Werk Bernhards, bei welcher die prägnantesten Motive seiner Texte wie philosophische und intertextuelle Bezugnahmen, Geistesmenschentum, Provokation der österreichischen Öffentlichkeit, Musik-Diskurse, Vergangenheitsbewältigung sowie die Problematik der Selbststilisierung diskutiert werden. So lässt sich die Feststellung der Direktorin des Österreichischen Kulturforums Ljubljana, Christina Sauer, bestätigen, wenn sie konstatiert, Thomas Bernhard bleibe in der Literaturgeschichte Österreichs eine „singuläre Gestalt“, die „kaum Vorgänger kennt und schon gar keine Nachfolger gefunden hat“. Es ist tatsächlich so, dass man nach Bernhard keinen Autor dieser Kategorie mehr gefunden hat; wohl auch deshalb werden manche Schriftsteller mit ihm verglichen, wenn sie stilistische oder thematische Ähnlichkeiten in ihren Texten aufweisen. So etwa im Falle von Andreas Maier, dessen umfangreiches Werk ebenfalls bei Suhrkamp erscheint. Allerdings muss man festhalten, dass es durchaus einige Nachahmer von Bernhards Stil gibt, die aber teilweise nur einem tatsächlich begrenzten Interessentenkreis bekannt sind, wie beispielsweise die Romane von Jörg-Uwe Sauer oder Stefan Weinbergs „Thomas Bernhard im Traum erschienen“. Genau diese intertextuellen Bezüge erforschen die Aufsätze von Uwe Schütte, Paola Bozzi und Philipp Schönthaler, indem sie äußerst interessante perspektivische Brücken schlagen zu W. G. Sebald, Luis Buñuel und Baudrillard.

Äußerst positiv erscheint die Tatsache, dass Lughofer auch etlichen Nachwuchswissenschaftern in diesem Bernhard-Kosmos eine Stimme gibt. Gerade das schafft ja Synergien für eine perspektivische Durchdringung und verdeutlicht, dass Thomas Bernhard auch seiner Enkelgeneration etwas zu sagen hat, respektive diese ihn für sich zu entdecken weiß. Dieser Tagungsband ist ohne Frage die umfangreichste Bestandsaufnahme aktuellster Forschungsdesiderate, die sich seit dem Bernhardjahr 2011 finden lässt. Manch kleiner Druckfehler lässt sich in Anbetracht des Umfanges und der qualitativ hochwertigen Beiträge leicht verschmerzen. Ob man mit allen hier dargelegten Forschungsergebnissen d’accord gehen muss oder nicht, bleibt schließlich dem Leser und wissenschaftlich Interessierten selbst überlassen. Zusammen mit der fast zeitgleich erschienenen, verdienstvollen Personalbibliografie zur Bernhard-Sekundärliteratur von Axel Diller stellt Johann Georg Lughofers Publikation ein seit langem fälliges und tiefgründiges Kompendium dar, das die aktuellsten Tendenzen der literaturwissenschaftlichen Betrachtungen zu Thomas Bernhard hervorragend resümiert und abbildet, und daher für die neuere Forschung unerlässlich ist.

Titelbild

Johann Georg Lughofer (Hg.): Thomas Bernhard. Gesellschaftliche und politische Bedeutung der Literatur.
Böhlau Verlag, Wien 2012.
453 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783205788119

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