„Draculas Vermächtnis“

Zwei deutsche Übersetzungen lesen Bram Stokers Weltklassiker aufs Neue

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das „Sachbuch unserer Bürokratisierung“: So nannte Friedrich Kittler 1982 Bram Stokers Roman „Dracula“ und ließ damit auf dessen 1897 erschienenes Buch das Licht der technischen Revolution fallen. Zur Strecke gebracht wird Dracula primär nicht durch den Ehrgeiz der Jäger, sondern durch die modernen audiovisuellen Aufschreibe- und Wiedergabe-Maschinen, mit denen jeder Schritt und Biss Draculas säuberlich von seinen Verfolgern dokumentiert wird. Schreibmaschine und Grammofon kann der Urvater aller Vampire im London des endenden 19. Jahrhunderts nicht entkommen. Und auch nicht im 20. Jahrhundert den Dichtern, Filmemachern und Künstlern, die ihn in ihren Werken unsterblich gemacht und manches Mal dem Originaltext bis zur Trivialität entfremdet haben. So sind die Übersetzungen ins Deutsche lange Zeit hinter die englischsprachigen Ausgaben zurückgefallen. Über diesen Missstand helfen die Neuübertragungen hinweg, die fast zeitgleich bei Steidl und bei Reclam erschienen sind.

Beide Bücher bieten den vollständigen Text, versehen mit Nachwort und Anmerkungsapparat, der in der Steidl-Ausgabe viel differenzierter ist als in der Reclam-Edition. Andreas Nohl (bei Steidl) und Elmar Schenkel (bei Reclam) kommentieren die Entstehung des Romans aus dem Geist von spätviktorianischem Schauerroman, aus dem Volksaberglauben, der literarischen Vampir-Tradition und dem, was von der Geschichte des walachischen Fürsten Vlad III. überliefert ist, des historischen Vorbilds der Dracula-Figur. Anregender ist allerdings Nohls Nachwort. „Ritterroman zu Zeiten des Hochimperialismus“, so liest man dort. Das benennt einen offenkundigen Anachronismus. Er hilft nicht nur die künstlerischen Anschlussfehler des Romans zu erklären (so verwendet Harker in Draculas Schloss mit „Graf“ die falsche Anrede für den „Woiwoden“ aus slawischem Haus), sondern beleuchtet auch den grundlegenden Dualismus, der den Roman prägt: „Zivilisation und Barbarei, Bewusstsein und Unbewusstes, Glaube und Vernunft, Gut und Böse, Sterblichkeit und Unsterblichkeit, Wirklichkeit und Illusion, Wahn und geistige Gesundheit, Wissenschaft und Irrationalität, Erlösung und Verdammung, Technologie und Magie, Moderne und Ancien Régime, Westen und Osten etc.“

„Dracula“ ist ein Hybridroman, gerahmt von Glaubwürdigkeitsbeteuerungen („schlicht wie ein Tatsachenbericht“), zusammengesetzt aus Tagebuchfragmenten diverser Figuren, Bulletins, Briefen und Zeitungsausschnitten, deren Ordnung einzig durch die Chronologie bestimmt wird, die der Geschichte ihre zielführende Spannung verleiht: Wann (und für den Erstleser: wie) wird es Abraham van Helsing und seinen Gefährten gelingen, dem blutlüsternen Grafen das Handwerk zu legen?

An dieser Figur des Vampirjägers lässt sich ein Hauptunterschied der Übersetzungen gut ablesen. Van Helsing, der mit seiner Medizin auf der Höhe der Zeit ist (fast jedenfalls, denn er nimmt Bluttransfusionen vor, ohne das erst 1901 beschriebene Blutgruppensystem kennen zu können) und dennoch die althergebrachten Abschreckmittel wie Knoblauch und Kreuz nicht verschmäht, spricht im Original öfters ein „ungrammatisches Englisch“. Dieses Idiom versucht die Steidl-Übertragung mit ungewöhnlichen, manchmal aber auch ungewollt kitschnahen Wortbildungen zu treffen: Van Helsing fürchtet das „Allernichtwahrscheinlichste“, sieht in Bisswunden „dieselbe Verursachung“ und fühlt mit Mina aus der „Tiefe [s]eines gebrochenen Herzens“. Ansonsten ist die Steidl-Übersetzung knapp, pointiert, flüssig und modernefreundlich, während in der Reclam-Ausgabe ein empathischer, akzentuierter Stil und ein deutender Duktus vorherrschen. Draculas erstes Auftreten bei Nohl: „Dahinter stand ein hochgewachsener alter Mann, glatt rasiert (mit Ausnahme eines langen weißen Schnurrbarts) und von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet – keine Spur von Farbe an ihm. […] Der alte Mann winkte mich höflich herein und sagte in exzellentem, aber seltsam betontem Englisch:,Willkommen in meinem Haus! Treten Sie ein, ungehindert und aus freien Stücken!’“ („Enter freely and of your own will!“) Ulrich Bossiers Übersetzung dieser Stelle beginnt fast genauso, hebt allerdings Draculas Dunkelheit und Fremdheit mehr hervor: „Im Eingang stand ein hochgewachsener alter Mann, schwarz gekleidet von Kopf bis Fuß, nicht den kleinsten Tupfer einer anderen Farbe an seinem Gewand. […] Mit einer höflichen Geste seiner rechten Hand bat mich der alte Mann hinein und sagte dabei in vortrefflichem Englisch, bei dem nur der starke Akzent den Fremdling verriet: ,Willkommen in meinem Hause! Treten Sie aus freien Stücken und aus eigenem Antrieb ein!’“ Wenn es einen Sympathiebonus für die Figur gibt (und Coppolas Film hat das in der Verwandlung Draculas in einen ungarischen Galan gezeigt), dann so.

Doch wir wissen, wie der Roman endet. „Draculas Vermächtnis“ ist sein Fortleben in der Literatur. Und dort liegen nun zwei anspruchsvolle, gut kommentierte, staubfreie Übersetzungen ins Deutsche vor, allerdings hat die von Steidl zweifellos mehr Biss.

Titelbild

Bram Stoker: Dracula.
Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Nohl.
Steidl Verlag, Göttingen 2012.
590 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783869304625

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Titelbild

Bram Stoker: Dracula.
Übersetzt aus dem Englischen von Ulrich Bossier.
Reclam Verlag, Stuttgart 2012.
604 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783150108000

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