Verwachsen mit dem Falschen

Die Literaturkritikerin Ina Hartwig legt einen Remix ihrer Kritiken vor

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn der 1990er-Jahre überkam Lothar Baier der Ekel angesichts eines selbstvergessenen literarischen Fachidiotentums, das in diesem „merkwürdig abgeschotteten Bereich Literatur“ große Geländegewinne verbuchen konnte. „Wer nur etwas von Literatur versteht, versteht auch davon nichts“, resümierte Baier in Anlehnung an eine Sentenz Hanns Eislers. Just zu dieser Zeit drängte die Literaturkritikerin Ina Hartwig auf den Markt, die nun – als Summe ihres zwanzigjährigen Schaffens – eine Auswahl ihrer tagesjournalistischen Texte, die von der Marketingabteilung ihres Verlages als „Essays“ angepriesen werden, unter dem Titel „Das Geheimfach ist offen“ publiziert. Der früheste Text dieses Bandes stammt aus dem Jahre 1991, in dem Hartwig in einem postmodernen Mashup ihre provinzielle Herkunft aus Lüneburg mit einer „Besprechung“ einer Wagenbach-Quartplatte aus dem Jahre 1971 verknüpfte. Die späteren „Essays“, die sich in erster Linie mit Veröffentlichungen deutsch- und französischsprachiger Autoren wie Clemens Meyer, Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Maguerite Duras, Herta Müller, Christoph Hein, Marguerite Yourcenar, Louis-Ferdinand Céline, Bernd Cailloux und vor allem Marcel Proust (dem eine eigene Sektion gewidmet ist) beschäftigen, wurden erstmals zwischen 1999 und 2009 in den Feuilletonbeilagen der „Frankfurter Rundschau“, für die sie in dieser Zeit tätig war, veröffentlicht und dokumentieren den nicht nur ökonomisch bedingten Niedergang und Verfall dieser Zeitung.

Jahrzehntelang hatte das FR-Feuilleton – unter der Ägide Wolfram Schüttes – in der Tradition der Kritischen Theorie gestanden, und dort wurde Literaturkritik auch immer als eine Form der Gesellschaftskritik verstanden. Schütte hatte stets über den Tellerrand der Literatur hinausgeblickt und wandte das Motto Siegfried Kracauers, der Filmkritiker von Rang sei nur als Gesellschaftskritiker denkbar, auf die feuilletonistische Arbeit (ob als Film-, Literatur- und Kulturkritiker) an. Hartwig dagegen präsentiert einen rückwärtsgewandten Typus der Literaturkritikerin, die eher Kontemplation denn Kritik betreibt. Bezeichnenderweise hängte sie sich auf dem Leipziger Symposion der Deutschen Literaturkonferenz im März 2004 das Etikett „kulturkonservativ“ um und präsentierte sich als Sprachrohr eines postmodernen Neokonservatismus, dessen Programm sie wie folgt umriss: „Skepsis gegenüber moralischer Eitelkeit; eine Neigung zur Deskription – mit der Tendenz zur Meinungslosigkeit; die Weigerung, Populärkultur zu verurteilen; Freude am Trash“. Damit empfahl sie sich als Sterbegleiterin des „Kursbuches“, um es unter dem Holtzbrinck-Sound in den Orkus zu verabschieden. Trotz solcher Fatalitäten blieb die selbsterklärte Literaturkritikerin „gut vernetzt“ im kapitalistischen Betrieb, wie es im neudeutschen BWL-Jargon heißt, hat ihre Cameo-Auftritte in TV-Feuilletons oder verdingt sich als willfähriges Mitglied in den Kommissionen der Betriebsverwaltung.

Ihr Buch soll das „Resümee eines Lebensabschnitts“ darstellen, ohne dass Hartwig einen Nachweis für die Notwendigkeit oder die Sinnhaftigkeit dieser Unternehmung erbringen könnte. Zwar ist sie mittlerweile mit den Insignien des Betriebs (sie wurde mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik und dem Caroline-Schlegel-Preis ausgezeichnet) ausgestattet, doch ihre Definition des „Kritikers“ ist mehr als fragwürdig: „Kritiker sind Diener und Parasiten zugleich“, schreibt sie in ihrem Vorwort. „Selbst als Liebende sind sie Nutznießer der Sprache und Ideen anderer, meist viel begabterer Menschen.“ Offenbar betrachtet sie den Kritiker lediglich als Anhängsel der Maschinerie, deren innere Logik sie niemals infrage stellt, und hat sich mit der selbst verschuldeten Erniedrigung der Existenz in der Hierarchie, mit der „Schmach des Daseins“ (wie Theodor W. Adorno es nannte) abgefunden. Während sie sich dem Diktat der Medienindustrie unterwirft und die eigene Verstricktheit im Betrieb kaschiert, verabsolutiert sie Literatur, ohne deren Warencharakter auch nur einmal zur Sprache zu bringen. Ihre Texte (die mit solchen Sätzen wie „Man staunt.“ oder „Die Menschenkenntnis dieser Autorin grenzt ans Unwahrscheinliche.“ bestückt sind) umweht das Miasma aus der blauen Containerwelt weltabgewandter, blasierter, salbadernder Komparatistik-Seminaristen, die – in der Wahrnehmung der selbstvergessenen Literaturkritikerin – „ganz und gar verwachsen mit der Literatur“ sind. Ein Blick in die Außenwelt ist nicht mehr möglich. Für diesen Typus des Betriebsangestellten schließt das Denken an Gefängnisse und Krankenhäuser nicht den Gedanken an die soziale Realität der Herrschaft ein, sondern lediglich die Illusion einer paradiesischen Lesezeit.

In der Negation einer jeglichen kritischen Aktivität zelebriert Hartwig philologische Messen vor den Altären der Literatur, wobei die Literaturkritikerin in apolitischen und asozialen Sentiments schwelgt, in denen die mit der Literatur ganz und gar Verwachsene das Politische bagatellisiert. „Für den antikommunistischen Hass McCarthys soll sie nicht das leiseste Verständnis gehabt haben“, weiß sie über Marguerite Yourcenar zu berichten, während sie den Grasset-Lektor André Fraigneau wie folgt charakterisiert: „gutaussehend, literarisch gebildet, angehender Schriftsteller, mit gewissen Sympathien für die Faschisten“, wobei die „gewissen Sympathien“ offenbar zu vernachlässigen sind (im Jahre 1941 traf er sich an der Seite faschistischer Autoren wie Pierre Drieu La Rochelle und Robert Brasillach in Weimar mit Joseph Goebbels), denn schließlich ist alles nur Literatur, nur Text. Selbst Lucien Chardon alias de Rubempré erkannte, dass „Literatur eine brutal materialistische Sache war“. Indem Hartwig Literatur falsch überhöht und ihre vollkommene Integration in die Warengesellschaft negiert, verschleiert sie die gesellschaftliche Wirklichkeit. Dies gehört vermutlich zum Berufsbild der „freien Kritikerin“, als die der Verlag seine Autorin vermarktet und sie sich selbst auf Fotografien in Denkerpose vor prall gefüllten Bücherregalen stilisiert. „Wer nur höflich ist, nie grob“, beschrieb Walter Boehlich einmal das Gegenbild des idealen Rezensenten, „wer nur ernst ist, nie leidenschaftlich, wer lau ist, wer feige ist, wer erbärmlich ist, der langweilt.“ Dies trifft auch für diese Zweitverwertung feuilletonistischer Texte zu, welche die Wichtigkeit einer Söldnerin im Betrieb unterstreichen sollen, aber letztlich eher den Verfall eines Berufsstandes in den letzten zwanzig Jahren dokumentieren.

Titelbild

Ina Hartwig: Das Geheimfach ist offen. Über Literatur.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012.
336 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100291035

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