Ein Bohemien unserer Zeit

Bernd Cailloux’ Autofiktion „Gutgeschriebene Verluste“

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit herkömmlichen Kategorien ist das Buch von Bernd Cailloux schwer zu fassen. Wenn es im Untertitel „Roman mémoire“ genannt wird, so ist das insofern irreführend, als damit ein Genre bezeichnet wird, das erstmals in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts zur Blüte kam und dadurch definiert ist, dass es einen eindeutig fiktionalen Lebenslauf in der Form von Memoiren darbietet. Berühmtes Beispiel ist „La vie de Marianne“ von Marivaux. Einem Interview zufolge sieht Cailloux seinen Fehlgriff inzwischen ein und möchte „Gutgeschriebene Verluste“ lieber eine Autofiktion nennen, ein Genre, das en vogue ist, man denke an den Roman „Hoppe“ der diesjährigen Büchnerpreisträgerin Felicitas Hoppe.

Im Unterschied zur üblichen Autobiografie inszeniert sich der Ich-Erzähler einer Autofiktion unter unverhohlener Zuhilfenahme fiktionaler Elemente, ohne jedoch seine Identität mit dem Autor aufzugeben. Die Frage, was ist im landläufigen Sinne ‚wahr‘, was ‚erfunden‘ und wie verbindet sich das eine mit dem anderen, mag abstrakter poetologischer Reflexion vielleicht naiv erscheinen, dennoch drängt sie sich bei konkreter Analyse eines Einzeltextes unabweisbar auf. Sie ist, wenn es um den rein persönlichen Lebensbereich geht, bestenfalls mit Mutmaßungen zu beantworten, hingegen gibt es feste Anhaltspunkte, wenn der Autor öffentlich hervorgetreten ist und Recherchen möglich sind. Dafür bietet Cailloux’ Buch ein instruktives Beispiel.

Im Mai 2009 fand an der Konstanzer „Hochschule für Technik, Wissenschaft und Gestaltung“ eine Podiumsdiskussion über die 68er-Bewegung statt, betitelt „Wahn und Sinn eines Aufbruchs“. Teilnehmer waren u. a. einige ehemalige Berliner Studenten, der Hamburger Zeithistoriker Wolfgang Kraushaar sowie Cailloux selbst, der mit seinem 2005 erschienenen autobiografisch grundierten Roman „Das Geschäftsjahr 1968/69“ einschlägig hervorgetreten war. Die größte Aufmerksamkeit fand das ebenfalls eingeladene ehemalige RAF-Mitglied Peter-Jürgen Book, wegen Beteiligung an der Ermordung von Jürgen Ponto und Hanns Martin Schleyer zu lebenslänglicher Haft verurteilt, inzwischen jedoch auf freiem Fuß.

Von dieser Podiumsdiskussion und ihren Begleitumständen bietet Cailloux einen detaillierten Bericht, wobei er sich keineswegs genau an die Fakten hält. Die veranstaltende Institution wird zur „Bodenseeuniversität“, das Thema ist die von ihm als „blödsinnig“ empfundene contrafaktische Fragestellung „Wo wären wir heute, wenn es 1968 nicht gegeben hätte?“. Die Mitdiskutanten erwähnt er ohne Namensnennung oder belässt es bei Vornamen, die eine Zuordnung nicht erlauben. Vergleichsweise genau ist noch „Peter von der RAF“ als Umschreibung für Peter-Jürgen Book. Andere Vagheiten erwecken den Eindruck einer Camouflage, die einer juristisch verfänglichen Identifikation vorbeugen soll. Fraglos fiktionale Momente sind die direkte Rede in den Dialogen und das stilistische Mittel der Erlebten Rede, das die Illusion, hier würde Objektives geboten, nicht aufkommen lässt.

Cailloux konzentriert sein Interesse auf den als unsympathisch empfundenen Terroristen Peter. Dessen Auftreten gibt ihm die Gelegenheit, die eigene Rolle innerhalb der 68er-Bewegung kontrastiv vor Augen zu führen: Dort der gewalttätige Fanatiker, hier der gewaltscheue Hedonist, dort der Vertreter der ideologischen Studentenbewegung, deren blutige Exzesse einer emanzipatorischen Bewegung entscheidenden Abbruch getan haben, hier der Mitbegründer einer Hippiefirma, Repräsentant einer kreativen, nicht an den Universitäten beheimateten Underground-Kultur, die nur in sehr ungefährem Sinn links war, eher Ausdruck eines neuen letztlich unpolitischen Lebensgefühls. Dass Peter als Autor und als nachgefragter Zeitzeuge aus seiner Vergangenheit Kapital schlägt und sogar ein Haus in der Toskana kauft, während Cailloux materiell alles andere als auf Rosen gebettet ist, schafft einen weiteren Gegensatz. Mehr noch verstimmt den Erzähler ein Publikum, das ihm geringe Beachtung schenkt, während es einem sich geschickt präsentierenden Terroristen – „der Exterrorist als langsam in Fahrt kommende Rampensau“ – zu Füßen liegt. Der Text gerät in die Nähe der Satire, wenn zwei „silberhaarige Professorinnen“ aufs Korn genommen werden, die sich durch Peters Erzählungen in die „süßen Jahre“ ihrer Studentenzeit zurückversetzt fühlen und ihm ihre Empathie mit nahezu zärtlichem Körperkontakt bekunden.

Gemeinsam haben Peter und der Erzähler lediglich eine Phase des Drogenkonsums. Diese Begleiterscheinung des 68er-Umbruchs, die Cailloux ausführlich in dem Vorgängerroman „Das Geschäftsjahr 1968/69“ behandelt, greift er in „Gutgeschriebene Verluste“ wieder auf. Als späte Folge der Heroin-Injektionen wird bei ihm eine Hepatitis C diagnostiziert, die eine Interferon-Therapie notwendig macht. Also noch in das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wirft das Jahr 1968 einen bedrohlichen Schatten, was verständlich macht, dass der Blick zurück nicht nur von Nostalgie, sondern auch von Skepsis begleitet ist.

Ungetrübter sind die Erinnerungen an die zweite Hälfte der 1970er-Jahre, eine „große Zeit“ für die Underground-Kultur im alten West-Berlin, genauer: in Berlin-Schöneberg mit dem Café Mitropa als Zentrum. Dort begegnet Cailloux dem Schriftsteller Thomas Leiser, einer anderen Kontrastgestalt, die allerdings im Unterschied zum Terroristen Peter mit Sympathie gezeichnet ist. Leiser trägt unverkennbar Züge von Ralf Rothmann: knapp 10 Jahre jünger als Cailloux, ohne den üblichen Bildungsweg, sogar einmal Tätigkeit als Krankenpfleger, literarische Anfänge als Lyriker, dann überdurchschnittlich erfolgreicher Romancier, Umzug mit seiner Lebensgefährtin in einen östlichen Vorort Berlins, mit ihrem Einverständnis eine Geliebte in Berlin usw. Er und Cailloux schließen enge Freundschaft, wobei der Jüngere allmählich in die Rolle des Ruhigeren und Vernünftigeren hineinwächst und so etwas wird wie ein Räsoneur im Drama.

Im Laufe der Jahre verliert die Freundschaft an Intensität, weil Leiser sich dem Schöneberger Bohème-Leben entzieht, das ohnehin seinen Höhepunkt hinter sich hat. Der Roman endet damit, dass Leiser nach einem der rar gewordenen Treffen vom Erzähler zur Bahnstation begleitet wird und dort für die lange Heimfahrt eine FAZ kauft – die Wahl der Zeitung muss als Indiz für Bürgerlichkeit gewertet werden. Der Erzähler erinnert sich an weit zurückliegende Freundschaftsabende im Mitropa und fährt fort: „An diesem Abend aber verabschiedeten wir uns ohne einen Schulterklaps oder andere Berührung – das kleinste zwischen uns beiden mögliche Lächeln musste genügen.“ In dem vorausgegangenen vorwurfsvollen Gespräch hat Leiser das Psychogramm seines Freundes bzw. Exfreundes auf den Punkt gebracht: „ein im Namen der Freiheit bis zur Asozialität hochgezüchtetes Individuum“.

Die Asozialität manifestiert sich nicht zuletzt in der Unfähigkeit, eine dauerhafte Liebesbeziehung zu einer Frau einzugehen. Den letzten Versuch macht der 60jährige mit einer fünfzehn Jahre Jüngeren und erzählt ausführlich von dem Scheitern, fast zu ausführlich, denn komisches Beziehungsgezänk, das zu tragischem Geschlechterkrieg ausartet, ist längst beliebtes literarisches Sujet, und Déjà-vu-Erlebnisse können nicht ausbleiben. Das allerdings weiß auch Cailloux, denn gewiss nicht zufällig sieht das Paar die viel beachtete Inszenierung von Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ mit Corinna Harfouch in der weiblichen Hauptrolle (nebenbei eine Datierungshilfe für die ‚erzählte Zeit‘: 2005).

Als sehr individuelle Erklärung für die Bindungsunfähigkeit wird ein frühkindliches Trauma nachgereicht: Vier Wochen nach seiner Geburt hat die Mutter ihren Sohn regelrecht verstoßen, weil sie den Vater hasste und bestrafen wollte, der durch Denunziation zwei ihrer Brüder ins KZ Buchenwald und somit zu Tode gebracht hatte. Das jedenfalls ist die Vermutung, die lediglich andeutungsweise vorgetragen wird und die den Charakter des Erzählers um einen zeitgeschichtlichen und vor allem psychoanalytischen Aspekt anreichert. An dieser Stelle öffnet sich die Autofiktion am weitesten der Imagination.

Plausibler ist der soziologische Aspekt des Charakters. Mit seiner Geringschätzung des gewöhnlichen Lebens stilisiert sich Cailloux zu einem typischen Vertreter der alternativen Szene, deren entfernter Vorläufer die Bohème des 19. Jahrhunderts ist. Schon der erste Darsteller dieser Bohème, Henri Murger in seinen „Scènes de la bohème“, weiß, dass sie ein Lebensabschnitt ist, den man überwinden muss, will man den Katzenjammer späterer Lebensjahre vermeiden. Cailloux scheint den Ausstieg verpasst zu haben; aber es gelingt ihm, den Katzenjammer in so überzeugender Weise literarisch zu bewältigen, dass sein „Leidkapital“ als Gewinn zu Buche schlägt.

Titelbild

Bernd Cailloux: Gutgeschriebene Verluste. Roman mémoire.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
271 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783518422793

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