Ein längst fälliges Update

Matthias Beilein, Claudia Stockinger und Simone Winko geben einen Tagungsband zur Neubewertung von Literatur im virtuellen Zeitalter heraus

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unsere von Internet und virtuellem Leben geprägte Zeit wird euphemistisch gerne als Wissensgesellschaft bezeichnet – ein Terminus, der vor allem die Möglichkeiten, die die technischen Neuerungen bieten, in den Blickpunkt rückt. Dass damit auch wesentliche Stützen der Bildungsgesellschaft neu fundamentiert werden müssen, liegt im Prinzip auf der Hand, ist in der Praxis aber noch nicht in allen Bereichen umgesetzt. Eine solche Lücke – die Neubewertung der Literatur – versucht die vorliegende Publikation zu schließen, die sich mit den grundlegenden Voraussetzungen von Literaturrezeption in der Gesellschaft – dem literarischen Kanon sowie der Wertung und Vermittlung desselben – befasst.

Der Band präsentiert die Ergebnisse einer im Frühjahr 2010 von Mitgliedern des Promotionskollegs „Wertung und Kanon. Theorie und Praxis der Literaturvermittlung in der ‚nachbürgerlichen‘ Wissensgesellschaft“ veranstalteten Tagung, die sich zum Ziel gesetzt hatte, den veränderten globalgesellschaftlichen Bedingungen im Hinblick auf den Umgang mit Literatur im engeren und weiteren Sinne nachzuspüren. Konkret bedeutet dies, dass zum einen der veränderte gesellschaftliche Stellenwert von Literatur zu berücksichtigen und zum anderen in den Kontext der ‚nachbürgerlichen‘ Wissensgesellschaft zu stellen ist. So positioniert, kann die eigentliche Arbeit beginnen.

An dieser Stelle seien den Nicht-Eingeweihten – die mutmaßliche Mehrheit unter uns – die zentralen Begrifflichkeiten erläutert: Was den veränderten Stellenwert betrifft, so meint dieser Ausdruck, dass das Buch seine gesellschaftliche Position als Leitmedium verloren hat – eine Erkenntnis, so schmerzhaft sie für Viele auch sein mag, die zunächst einmal nicht geleugnet werden kann, wenngleich sie nichts aussagt über den durchaus noch bestehenden Stellenwert des Buches. Und das mit der ‚nachbürgerlichen‘ Wissensgesellschaft (weshalb steht das nachbürgerlich eigentlich in einfachen Anführungszeichen?) ist das Ergebnis des Versuches, unserer Aktualität ein epochenähnliches Etikett zu basteln, das sie von der bisherigen, der allenthalben als bürgerliche Bildungsgesellschaft bezeichneten, abgrenzt. Unsere Gesellschaft ist also keine bürgerliche mehr, und Bildung ist jetzt zu Wissen geworden. Über die Begriffe mag man geteilter Meinung sein, die Sache an sich – der veränderte Umgang mit Literatur – ist grundsätzlich eine Folge der gesellschaftlichen und technischen Veränderungen; eine Auseinandersetzung mit Kanon, Wertung und Vermittlung von Literatur ist vor diesem Hintergrund folglich mehr als berechtigt. Der vorliegende Band ist demnach, um im multimedialen Jargon zu bleiben, ein längst fälliges Update, das, wie es im Vorwort heißt, „Modelle und Konzepte von Wertung und Kanonisierung zur Diskussion“ stellt.

Insgesamt 19 Beiträge umreißen auf 350 Seiten den Themenkomplex rund um die Literatur in der Wissensgesellschaft von heute, dem sich die drei bereits im Titel genannten, aufeinander aufbauenden Abteilungen annähern: Am Anfang steht der literarische Kanon und die Frage, wie dieser in der heutigen Zeit zustande kommt. Danach folgt die Wertung dieses Kanons, die in erster Linie in Institutionen stattfindet. Ist der Kanon gebildet und gewertet, so muss er vermittelt werden – damit befasst sich die letzte der drei Abteilungen.

Die Grundsatzfrage nach den Mechanismen des Kanonbildungsprozesses zeigt denn auch gleich das Dilemma der Wissensgesellschaft – einerseits interessieren die Faktoren, die (welche genau und in welchem Maße?) die Bildung von Kanones beeinflussen, andererseits aber wird die Notwendigkeit eines einzigen Kanons prinzipiell in Frage gestellt. Und: Denkt man beim Umgang mit diesen kontroversen Fragestellungen wie bisher in Sprachgebieten und historisch gewachsenen Kulturräumen oder, ganz modern, gleich in globalen Dimensionen?

Betrachtet man die einzelnen Beiträge, verraten bereits die Titel den globalen Blickpunkt: Von den Kanones der russischen Literatur ist ebenso die Rede wie von einem exemplarischen Kanonisierungsprozess (Karl May und sein Wilder Westen), von staatlicher Literaturförderung in Österreich ebenso wie vom Erfolgsrezept des aus der Feder von Manuel Vázquez Montealbán entsprungenen Privatdetektivs Pepe Carvalho, der in Barcelona seine kleinen und großen Abenteuer erlebt.

Ein detaillierter Streifzug durch das dankenswerterweise erstellte Register bestätigt anhand der dort versammelten Namen nicht nur den globalen, sondern auch den literarisch und thematisch sehr breit angelegten Bogen, den die hier versammelten Beiträge spannen: So findet man dort, zwischen den ‚Klassikern‘ der vor allem deutschsprachigen Literatur, Maria Callas ebenso wie Charles Darwin, Verona Feldbusch, Johannes B. Kerner oder Lenin, Francisco Franco genauso wie Joseph Goebbels und Adolf Hitler. Hinzu kommen (erfreulicherweise) eine Reihe bekannter Frauennamen, die jeweils für eine moderne Strömung von Literatur stehen, wie beispielsweise Susanne Fröhlich, Gaby Hauptmann, Jana Hensel, Ildiko von Kürthy oder Juli Zeh.

Fast nebenbei wird noch ein ganz anderes Phänomen der Literatur (-geschichte) skizziert, das einmal mehr belegt, dass Erfolg und Misserfolg von Literatur in einem direkten Zusammenhang zu dem stehen, was man gemeinhin als Zeitgeist bezeichnet. Anders ausgedrückt: Ein- und dasselbe Buch kann, je nach dem Zeitpunkt seines Erscheinens, positiv, negativ oder kaum bis gar nicht rezipiert werden. Beispiele hierzu gibt es zuhauf – ein aktuelles findet sich in diesem Band: Gert Ledigs bereits 1956 erschienener Antikriegsroman „Vergeltung“, der in der Nachkriegszeit auf breite Ablehnung stieß. Erst seine Neuauflagen vier Jahrzehnte später (1999 ff.) werden positiv rezipiert und gewähren Buch und Schöpfer nun einen Platz auf der literarischen Sonnenseite.

Handelt es sich bei den Beiträgen der ersten beiden Abteilungen noch um Aufsätze, die auch in anderen Sammelbänden, die sich mit literarischen Kanones befassen, erscheinen könnten, macht der letzte Beitrag der zweiten Abteilung – verfasst von einem Pionier der digitalen Buchvermarktung – die Veränderungen deutlich, die das moderne Konzept des Book on Demand im literarischen Kanon bewirkt hat. Die dritte Abteilung steht denn ganz und gar im Zeichen von Internet und multimedialem Literaturbetrieb – angefangen von webbasierten Selbstinszenierungen über Marketingstrategien und Kritik und Wertung von Literatur im Internet bis hin zur Wertung und Kanonisierung von Computerspielen reicht das Spektrum der Beiträge. Soziostrukturelle Veränderungen, hier vor allem die inzwischen deutlich diversifizierten Stufen der Lese- und Sprachkompetenz der Rezipienten, werden in diesem Kontext allerdings nur sehr marginal behandelt, obgleich gerade hier ein direkter Zusammenhang besteht zu verschiedenen modernen Formen von Kritik und Rezeption.

Die Gesamtheit der Beiträge hat etwas Essayistisch-Exemplarisches, das eindrucksvoll zeigt – ob beabsichtigt oder nicht – dass der gemeinsame Nenner der hier zugrunde gelegten ‚nachbürgerlichen‘ Wissensgesellschaft so groß geworden sind, dass man das Gemeinsame kaum noch wahrnimmt. Auch das ist eine Beobachtung derjenigen, die sich regelmäßig mit Sammelbänden wie dem vorliegenden befassen: Die Tendenz von Tagungen und deren verschriftlichten Ergebnissen zeigt eindeutig in alle Richtungen – Diversifizierung ist das Zauberwort der Gegenwart und meint: Eine gewisse Anzahl von Individuen macht noch lange keine Gruppe aus. Und: Die Sicht durch die rosarote Brille ist ebenso wenig ergiebig wie der Blick auf eine schwarz-weiß gemalte Wand – die Kunst liegt eher darin, die Vorteile der Diversifikation zu nutzen, ohne die des gemeinsamen Nenners zu verlieren; vielleicht die grundsätzlichste aller Herausforderungen für die Wissensgesellschaft.

Titelbild

Matthias Beilein / Claudia Stockinger / Simone Winko (Hg.): Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft.
De Gruyter, Berlin 2011.
350 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110259940

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