Schöne Atmosphäre
Gernot Böhmes Sicht auf Kants "Kritik der Urteilskraft"
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGernot Böhme, seit 1977 Professor für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt und einem breiteren Publikum durch das Buch "Das Andere der Vernunft" (1983 zusammen mit Hartmut Böhme) als Kritiker der Rationalitätsstrukturen der Aufklärung am Beispiel Kants bekannt, legt nun eine "neue Sicht" auf die "Kritik der Urteilskraft" (1790) des Königsberger Philosophen vor. Bekanntlich wollte Kant mit dieser Schrift, der dritten seiner Kritiken, die beiden ersten ("Kritik der reinen Vernunft" und "Kritik der praktischen Vernunft") miteinander verknüpfen, indem er versuchte, zum einen die Gebiete der Natur und der Freiheit und zum anderen die des Erkennens und des Handelns zu verbinden.
Böhme geht es allerdings nicht um die Frage, inwieweit dieses Unternehmen geglückt ist. Vielmehr klagt er ein, die von Kant zur Illustration des Schönen und des Erhabenen vorgebrachten Beispiele ernst zu nehmen, ihnen nachzugehen. Böhme tut es, indem er Kants Ästhetik des Schönen als die eines "Menschen des Rokoko" nachweist, der seine Beispiele den entsprechenden Interieurs oder, wie Böhme mit einem moderneren Ausdruck und eigentlich genauer sagt, dem "Design" entnimmt. Hieran knüpft Böhme eine kurze Darstellung und Kritik der Kantischen Auffassung des Schönen, die nicht ganz frei von Inkonsistenzen ist. "Schönheit", so Böhme zunächst, sei Kants "sehr sensibler und teilnehmender Auseinandersetzung" zufolge "etwas Atmosphärisches", das der Autor als "charakteristisch spürbare Präsenz von Dingen" und zugleich als "quasi objektive Befindlichkeit der Subjekte" präzisiert. Diese Lesart ändert er jedoch bald. Zwar komme für Kant "Schönheit als Eigenschaft des Objekts nicht mehr in Frage", doch verfalle er, so Böhme nun, in den umgekehrten Fehler und verlege sie "auf Seiten des Subjektes", also ins Auge des Betrachters. Gerade die Position, die er Kant zunächst zuschrieb, hält er ihm nun entgegen: Schönheit sei weder hier noch dort zu verorten, sondern vielmehr etwas zwischen beiden, eben etwas Atmosphärisches: "Sie ist etwas, was die Dinge ausstrahlen können, und das wir als Menschen spüren, von dem wir ergriffen werden können. Was wir da spüren, ist, daß wir uns in Gegenwart von bestimmten Dingen so und so befinden. Schönheit ist der Charakter einer Kopräsenz".
Bevor Böhme sich abschließend Kants Theorie des Erhabenen zuwendet, schaltet er eine Auseinandersetzung mit Lyotards Kant-Rezeption ein. Ein Abschnitt, der den Eindruck von Fremdheit hinterlässt. Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, als wäre er nur aufgenommen worden, weil der ohnehin schon schmale Band ohne ihn für eine eigenständige Publikation allzu dünn geraten wäre.
Anders als bei seiner Theorie des Schönen konnte der bekanntlich nicht sonderlich weit in der Welt herumgekommene Kant bei der des Erhabenen seine Beispiele nicht eigener Anschauung entnehmen. Vielmehr war er auf die vorherige Lektüre der im 18. Jahrhundert so beliebten und weitverbreiteten Reisebeschreibungen angewiesen, wenn er etwa über die Alpen oder die Pyramiden schreiben wollte. Soweit ist das sicher keine bahnbrechende Erkenntnis Böhmes. Doch hält der Autor der Kantforschung insgesamt durchaus mit gutem Recht vor, dass sie es bisher versäumt hat, "Kants Text mit dem Interesse an Intertextualität" zu untersuchen. "Nach 200 Jahren Kantforschung" ein kaum verständliches Desiderat. Allerdings darf man sagen, dass in jüngster Zeit wenigstens hinsichtlich Kants Anthropologie Abhilfe geschaffen wurde. Und zwar sowohl, was die Nachschriften seiner Vorlesungen betrifft (1997 durch die von Reinhard Brandt und Werner Stark bearbeitete Edition des 25. Bandes von "Kant's gesammelte[n] Schriften"), als auch hinsichtlich der Druckfassung der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" (1798) durch Brandts Kommentar von 1999.
Insgesamt aber befindet sich die Kantforschung im Hinblick auf die Intertextualität seiner Schriften nach wie vor in einem beklagenswerten Zustand. Einige intertextuelle Bezüge von Kants Theorie des Erhabenen hat Gernot Böhme nun aufgedeckt, ohne jedoch - anders als bezüglich der Theorie des Schönen - den bisherigen Lesarten eine neue Sichtweise zur Seite zu stellen.
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