Haarrisse im Gefüge

„Alles zerfällt“ – ein frisch gebliebener Klassiker von Chinua Achebe aus dem Jahr 1958

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Afrikanisches Leben, geschildert von einem Afrikaner – was eine Kuriosität darstellte, als 1958 der englische Verleger William Heinemann das Buch in sein Programm aufnahm, hat heute diesen Reiz des Exotischen glücklicherweise verloren. Das ist auch ein Verdienst des 1930 geborenen nigerianischen Autors Chinua Achebe und seines Debütromans „Things Fall Apart“, der in einer deutschen Neuübersetzung erschienen ist. „Alles zerfällt“ gilt heute als eines der erfolgreichsten afrikanischen Bücher, 10 Millionen Mal wurde es in rund 50 Sprachen verkauft. Dies mag vor allem auch daran liegen, dass es eine erstaunliche Frische bewahrt hat. Achebes Reminiszenz an ein (sein) afrikanisches Dorf um die Jahrhundertwende ist frei von Nostalgie und Wehmut, vielmehr beschreibt er mit sachlicher Strenge und Anschaulichkeit das dörfliche Leben, das oberflächlich intakt wirkt, doch unterschwellig bereits von feinsten Haarrissen unterminiert und gefährdet ist. Mit der Ankunft der englischen Kolonisatoren brechen sie auf und entzweien die dörfliche Gemeinschaft.

„Alles zerfällt“ erzählt die Geschichte des tüchtigen, aber auch hartherzigen Okonkwo, der der Sohn eines Schwächlings und Versagers ist. Diese Schmach will er mit eigener Tatkraft um jeden Preis tilgen und vergessen machen. Er wird mit zwanzig zu einem gefeierten Kämpfer und tapferen Krieger, mit vierzig ist er das geachtete Oberhaupt einer Großfamilie mit drei Frauen, etlichen Kindern und einem Reichtum, der sich der eigenen Schaffenskraft und Umsicht verdankt.

Okonkwo lebt eingebettet in die Dorfgemeinschaft im Igbo-Land, im südlichen Nigeria. Die Igbo (oder Ibo) kennen weder Könige noch Fürsten, ihre Dörfer sind egalitär strukturiert von Männern, die sich Ehren und Verdienste erworben haben. Gemeinsame Angelegenheiten werden nach alten Gesetzen oder im Palaver geregelt. Feste und Rituale prägen den Jahresablauf, die Natur bestimmt den Lebensrhythmus, eine vielgestaltige Götter- und Geisterwelt fordert von den Menschen Respekt. Okonkwo hat lebhaft Teil an dieser Gemeinschaft, dahinter aber, lässt Achebe bald durchblicken, steckt eine höchst komplexe Persönlichkeit: „Wahrscheinlich war Okonkwo im Innersten kein harter Mann. Doch beherrschte Angst sein ganzes Leben, Angst vor Misserfolg und Schwäche.“ Deswegen zeigt er seine Gefühle nie offen, es sei denn im Zorn. Deshalb kann es geschehen, dass er sogar die Woche des Friedens vor der jährlichen Yams-Aussaat vergisst und für diesen Frevel bestraft werden muss.

Chinua Achebe beschreibt diese gesellschaftlichen und natürlichen Prozesse anschaulich und lebhaft, er schildert und erzählt sachlich und geradlinig, und zwischendurch lässt er immer wieder orale Motive mit einfließen: Sprichworte aus dem reichen Igbo-Schatz oder Legenden, Märchen und Anekdoten. Sie signalisieren und illustrieren die kleinen, zuweilen unscheinbaren Umbrüche in seiner Geschichte. Derart aquarelliert Achebe gewissermaßen mit feinem Pinsel und diskreten Farben, so dass ein aussagekräftiges, doch nie grelles Bild der eigenen Igbo-Kultur entsteht, festgehalten in einer Epoche, die Achebe selbst nur vom Hörensagen kennt. „Alles zerfällt“ zeichnet sich durch höchste erzählerische Ökonomie und zugleich eine großartige Poesie aus.

Noch sind die weißen Kolonisatoren erst ein Gerücht, das rumerzählt wird. Daher bleibt der Titel die ersten zwei Drittel des Buches uneingelöst. Erst zu Beginn des zweiten Kapitels heißt es: „Dann war alles zerbrochen“. Damit ist der sich beschleunigende Beginn des Niedergangs markiert. Achebe spricht laut aus, was die Lektüre unterschwellig längst hat erahnen lassen.

Es sind im Kern drei Elemente, die darauf hindeuten, dass die Welt der Igbo bereits nicht (mehr) heil ist, bevor die Weißen über sie hereinbrechen. Erstes unscheinbares Anzeichen des drohenden Unheils ist das Mitleid der Frauen, dass diese gegenüber den Kreaturen und (Zwillings-)Kindern empfinden, die im „bösen Busch“ ausgesetzt werden. Zwillinge gelten als Unheilbringer, deshalb werden sie entfernt. Manchmal sind sie von fern noch zu hören. Eine wahrhaft heile Welt müsste allerdings ohne jenes Mitleid auskommen, weil alles Geschehende fraglos, ganz im reinen Glauben aufginge. Mitleid aber verstößt dagegen, ja es spaltet die Einheit von Menschen, Ahnen und Göttern. So ist es eine Mutter, die mehrfach Zwillinge geboren hat, die als eine der ersten zum Christentum der neu eintreffenden Missionare übertritt.

Zwischen Akzeptieren und Nicht-Begreifen schwankt auch der starke Okonkwo, als das Orakel befiehlt, dass sein Ziehsohn Ikemefuna, das Pfand eines feindlichen Klans, zu töten sei. Okonkwo unterwirft sich dem Gebot, ja führt es eigenhändig aus, allein die rechte Überzeugung fehlt ihm dafür. Für kurze Momente wird er innerlich durchgeschüttelt. Stärker erschüttert das Ereignis seinen Sohn und Ikemefunas Freund Nwoye. „Damals war in seinem Inneren etwas weggesackt“, es wird ihn später dazu bewegen, dem eigenen Glauben zu entsagen und den neuen Glauben anzunehmen.

Und schließlich deutet ein Unfall auf das Fremde hin. Gewehre und Kanonen gehören nicht zum traditionellen Kriegsgerät der Igbo, sie werden allenfalls zur Jagd und für das Totengedenken benutzt. Doch einmal geschieht Okonkwo ein Malheur damit, als sein Gewehr zerbirst und einen Jungen tötet. Damit hat Okonkwo Schuld auf sich geladen, wofür er mit sieben Jahre Verbannung ins Dorf seiner Mutter büßen muss. Damit bricht endgültig auf, was im Verborgenen längst rumorte. Auf den Unfall folgt der Zerfall, bald tauchen die ersten Missionare auf, ihnen folgt eine neue Regierungsmacht, die das neue „Wir“ etabliert: die englische Rechtsprechung, die mit überlegenen Waffengewalt und einer überheblichen Zivilisation abgestützt ist. Die Chancen sind dabei ungleich verteilt, nicht zuletzt weil die Fremden alle Regeln der Fairness und Gastfreundschaft mit Tücke verletzen.

Chinua Achebe beschreibt diese Etappen der Eskalation schnörkellos und mit schnellen Strichen. Während Teile der Igbo-Gemeinschaft (Außenseiter, Ausgestoßene) das Angebot der Weißen annehmen und zum neuen Glauben übertreten, besinnen sich andere auf ihre stolze kriegerische Kultur und leisten Widerstand. Doch der englische District Commissioner verkündet humorlos die neue Macht. Sie fragt nicht nach Tradition und Gewohnheit. Sie diskutiert nicht, sondern dekretiert hierarchisch von oben. Gerade weil Achebe dies nüchtern beschreibt, hat dieses Buch seine Kraft und Eindringlichkeit bis heute bewahrt. Darin liegt auch seine Modernität und Authentizität. 1965 schrieb Achebe in einem Aufsatz über die englische Sprache seiner afrikanischen Bücher, dass es ihm nicht darum gehe, ein perfektes Englisch zu schreiben. Einem afrikanischen Autor müsse es darum gehen, „ein Englisch zu gestalten, das zugleich universell ist und fähig, eine spezifische Erfahrung wiederzugeben“. „Alles zerfällt“ gelingt dies, auch wenn in der Übersetzung diese universell-spezifische Form und somit die Differenz zur sprachlichen Norm weniger zum Tragen kommen mag als im englischen Original.

Titelbild

Chinua Achebe: Alles zerfällt. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Uda Strätling.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2012.
237 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100005403

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