Dieses Buch will dem Frieden dienen

Zur Neuausgabe der 1936 im Pariser Exil veröffentlichten Dokumentation „Das deutsche Volk klagt an“

Von Kurt SchildeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kurt Schilde

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Drei Jahre nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 in Deutschland erschien in Paris im Verlag Editions du Carrefour das Buch „Das deutsche Volk klagt an. Hitlers Krieg gegen die Friedenskämpfer in Deutschland. Ein Tatsachenbericht“. Bei dem damals anonym gebliebenen Autor handelte sich um den im März 1933 mit Frau und Sohn nach Paris geflohenen Walter Maximilian Schlieper (1896-1978). Um seine in Deutschland zurückgebliebenen Familienangehörigen zu schützen, entfernte er drei Buchstaben aus seinem Namen und benutzte fortan seinen zweiten Vornamen. So wurde aus Walter Schlieper das Pseudonym Maximilian Scheer. Dieser sammelte, wahrscheinlich unter Mithilfe von Erich Birkenhauer und Bruno Meisel (über den nichts weiter gesagt wird), umfassende Informationen über den NS-Terror in Deutschland. Die Zusammenstellung war rasch vergriffen. 1938 folgte eine zweite Auflage. Die von Scheer, sowie (wahrscheinlich) von Birkenhauer und Meisel, zusammengestellte Dokumentation orientierte sich an dem bereits 1933 veröffentlichten „Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitler-Terror“ und dem „Braunbuch II. Dimitroff contra Göring. Enthüllungen über die wahren Brandstifter“ von 1934. Seit 1978 beziehungsweise 1981 liegen von den Braunbüchern, die ebenfalls bei Editions du Carrefour veröffentlicht worden waren, faksimilierte Nachdrucke vor.

Dies trifft leider bei dem hier anzuzeigenden Band „Das deutsche Volk klagt an“, der vom Verlag als „erweiterter Reprint“ bezeichnet wird, nur sehr bedingt zu, denn er wurde neu gesetzt und gestaltet. Er enthält ein aktuelles Vorwort von Lionel Richard, ein Geleitwort von Katharina Schlieper (der Tochter aus zweiter Ehe), das Vorwort zur Originalausgabe von Romain Rolland sowie – als wirkliche Reprints – aus der Originalausgabe die „Übersichtskarte über Konzentrationslager, Zuchthäuser und Gefängnisse in Deutschland“ sowie eine Lager-, Disziplinar- und Strafordnung für das Gefangenenlager Esterwegen. Die Neuauflage wird weiterhin ergänzt durch einen Beitrag von Nikolaus Brauns über den Verleger von Editions du Carrefour, den „roten Manager Willi Münzenberg“ sowie von Bettina Raabe stammende biografische Angaben zu Maximilian Scheer.

Nach dem Vorwort wird in sieben Abschnitten über den NS-Terror in Deutschland 1933-1936 berichtet. Zunächst geht es um die „Tyrannei gegen das deutsche Volk“ sowie die „Verschleierung der Wahrheit“ und es wird gegen die Vorbereitung des Krieges protestiert: „Um des Friedens willen erhebt das unterdrückte, stumme deutsche Volk seine Stimme. Das deutsche Volk klagt an!“. Die Kommunistische Partei ist zwar nicht verboten, aber „ausserhalb des Gesetzes“ gestellt. Scheer und Kollegen listen die nicht mehr erscheinenden kommunistischen Zeitungen und solche, die die Nationalsozialisten als kommunistisch bezeichneten, auf. Genannt sind auch die Titel der unterdrückten sozialdemokratischen Parteipresse sowie der bürgerlichen Zeitungen. Ausführlich wird auf die zahlreichen Terrormaßnahmen, die Erziehung der Jugend zum Krieg und die als Juden oder aus politischen Gründen aus Hochschulen und Universitäten entlassenen Personen eingegangen. Weiterhin thematisiert werden die „Methoden der blutigen Unterdrückung“. Es kommen Berichte von entlassenen Häftlingen zum Abdruck, in denen brutale Folterungen und Morde geschildert sind. Das Kapitel „Ein Volk hinter Stacheldraht“ enthält weitere Berichte – teilweise illustriert – über die „Marterhölle von Stettin“ und andere Konzentrationslager. Im Abschnitt „Die Legalisierung des Terrors“ werden zahlreiche juristische Verfolgungsschritte erwähnt: das „Führerprinzip“, „gesundes Volksempfinden“, Sondergerichte, Massenprozesse und so weiter und mit vielen Beispielen belegt. Eine „Statistik des Grauens“ enthält unter anderem detaillierte Namenslisten von zum Tode verurteilten und in der Todeszelle ermordeten Menschen, der 1933-1936 Hingerichteten sowie Aufstellungen der zum Tode Verurteilten und Begnadigten, deren Schicksal unbekannt blieb und von Personen, die sich noch in Todeszellen befunden haben. Es wird ausführlich auf den Pazifisten Carl von Ossietzky, den KPD-Führer Ernst Thälmann, den Sozialisten Carl Mierendorf (richtig: Carlo Mierendorff), den Rechtsanwalt Hans Litten und viele weitere Leidensgeschichten – darunter der „Selbstmord“ von Erich Mühsam – eingegangen. Aus dem Original von 1936 übernommen worden ist die faksimilierte chronologische Aufstellung von Namen der bekannt gewordenen NS-Opfer. Sie beginnt am 30. Januar 1933 mit „Wassner, Breslau, Steinarbeiter, von Polizeibeamten erschossen“ und endet mit Juni 1936 und „Debus, F., Frankfurt a.M., 38 Jahre, Arbeiter, K.P.O. [Kommunistische Partei-Opposition] wegen Aufbaus illegaler Gewerkschaften im Gefängnis ermordet.“ Im abschließenden Kapitel kommen der „Widerstand des Volkes“, Tarnschriften, illegale Zeitungen, betrieblicher Widerstand, das „Kampfmittel der passiven Resistenz“, Streiks und die „Jugend in Rebellion“ zur Sprache.

Mit der Neuausgabe ist 75 Jahre nach dem ersten Erscheinen ein wichtiges Dokument über die NS-Verbrechen in den ersten Jahren des nationalsozialistischen Deutschlands wieder allgemein zugänglich. Während die bisherigen Forschungen zur Geschichte des Nationalsozialismus nur auf seltene Bibliotheksexemplare zurückgreifen konnten, hat die aktuelle und zukünftige Forschung nun viel bessere Voraussetzungen. Es ist zu wünschen, dass bald auch die Rezeption von „Das deutsche Volk klagt an“ und die Lebensgeschichte von Maximilian Walter Schlieper-Scheer in den Fokus der Forschung gestellt werden.

Titelbild

Katharina Schlieper (Hg.): Das deutsche Volk klagt an. Hitlers Krieg gegen die Friedenskämpfer in Deutschland ; ein Tatsachenbericht ; (Originaltitel 1936), anonym erschienen.
LAIKA-Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg 2012.
405 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783942281201

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