Grenzgänge entlang der Trennlinien zwischen Textvielfalt und Abstraktion
Franziska Bomski und Stefan Suhr stellen „Fiktum versus Faktum“
Von Heide Kunzelmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEnde der 1990er-Jahre hatte die Rezensentin die Gelegenheit an einer der ersten wirklich interdisziplinären Lehrveranstaltungen meiner Universität teilzunehmen. Es trafen sich im Hörsaal neben Chemie-, Geschichte- und Psychologiestudenten auch Literaturwissenschafts- und Mathematikstudenten, die in diesem einsemestrigen Seminar unter anderem ihre jeweilige Disziplin dem Plenum so präsentieren sollten, dass alle verstanden, worin die Relevanz der Forschung bestand und was man mittels forschungsspezifischer Methoden zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung beizutragen hatte. Wir Germanisten konzipierten und führten eine kurze Szene im Stil eines Brecht-Dramas auf, in der wir unter Zuhilfenahme des Verfremdungseffekts einen Dialog mit dem (skeptisch zusehenden) Publikum über das zu schaffen suchten, was die Literaturwissenschaft einer Gesellschaft geben kann. Die Historikergruppe erklärte den Inhalt eines Koffers, die Psychologen testeten unsere Persönlichkeiten und die Chemikergruppe verzweifelte an unserem Unvermögen, ihnen durch den Begriffswald zum Verständnis eines einfachen chemischen Verbindungsvorgangs zu folgen. Die Mathematiker jedoch steckten uns durch ihre Begeisterung für die Schönheit einer einfachen Formel und die grundlegende Klarheit im Nachweis der Nützlichkeit der Mathematik im täglichen Leben an. Gerade uns Literaturstudenten wurde deutlich, dass wir mehr mit den Mathematiker gemeinsam hatten, als mit allen anderen Naturwissenschaftlern. Es einte uns der Umgang mit Sprache und das Bewusstsein, dass die ästhetische Erregung für die Materie zentral für unsere Erkenntnisvorgänge war.
Gute zehn Jahre später setzt sich ein Workshop in Freiburg im ‚Jahr der Mathematik‘ mit der Frage „Fiktum versus Faktum?“ auseinander und resultiert schließlich in einer Publikation der Beiträge, herausgegeben von ‚einer studierten Mathematikerin und promovierender Germanistin‘, Franziska Bomski, und einem ‚promovierte[n] Mathematiker mit kulturellen Interessen‘, Stefan Suhr. Es ist eine längst überfällige interdisziplinäre Annäherung zwischen wissenschaftlichen Sphären, die hier unaufgeregt sachlich stattfindet.
Der vorliegende Band, bestehend aus 17 Beiträgen, erfüllt die wichtige Funktion des interdisziplinären Brückenbaus und scheut die Gefahr nicht, durch eine möglicherweise zu heterogene Ausrichtung der einzelnen Ansätze, die aus der Multidisziplinarität der Beiträge entstehen könnte, den roten Faden für das Buch zu verlieren. Bomski und Suhr begegnen dieser Gefahr jedoch mit einer klaren Struktur, die die Beiträge auch narativ kontextualisiert. So sind die Beiträge in den Teilen ‚nicht-mathematische Perspektiven auf die Mathematik‘, ‚Literatur und Mathematik‘ und ‚Film und Mathematik‘ kategorisiert und folgen überdies einer Prolog-Hauptteil-Epilog-Struktur, was ein cleverer Kunstgriff ist, wenn man sich als Herausgeber mit sehr heterogenen Ausgangspositionen konfrontiert sieht.
Das größte Augenmerk wird der Mathematik als literarischem Motiv, als ästhetischem Paradigma (etwa bei Edgar Allen Poe) und als struktureller Prinzipiensammlung gewidmet, wobei der Schnittpunkt mit der Literatur klar über den gemeinsamen Anspruch an die Symbolhaftigkeit der Sprache verläuft. Mathematiker und Schriftsteller bedienen sich derselben Fähigkeit zur Abstraktion, wie etwa die Beitäge Ralf Haekels über Edgar Allen Poe oder Moritz Müller, der sich der Formelhaftigkeit von Wahrscheinlichkeit und Simplizität vor der Folie der Schönheit widmet, zeigen. Immer wieder wird, aus vielfachen Perspektiven, auch die Verwandtschaft zwischen jenen Wissenschaften der Abstraktion zur theoretische Philosophie hergestellt, etwa in den Beiträgen von Andrea Albrecht und Christian Blohmann, Mathew Handleman oder auch Markus Junker.
Zugegeben, nicht immer vermag man den Ausführungen zu folgen, besonders dann nicht, wenn sie sich ins abstrakt Formelhafte begeben (wie bei Müller). Überraschendes erschließt sich jedoch auch, etwa in der Engführung des vielzitierten Fermat’schen Rätsels, dessen sich in jüngster Zeit vorallem skanidinavische Krimiautoren motivisch angenommen haben, wie etwa Stig Larsson in Teil zwei seiner ‚Millenium‘-Trilogie oder Håkan Nesser im Krimi „Der Regen und der Schatten“. Iannis Goerlandt und Markus Reineke erklären durchaus schlüssig, wie sich die Unbeweisbarkeit der Gleichung des französischen Barockmathematikers Pierre de Fermat zur Metapher für Wirklichkeitsfluchterfolge gequälter Existenzen heranziehen lässt. In Verquickung mit dem visuell äußerst zugänglichen Bild der ‚reziproken Radien‘ legen die Autoren dar, wie Arno Schmidt über diese mathematischen Konzeptionen sein ‚geistig autarkes Leben‘ literarisieren konnte.
Man vermag allen Beiträgen Neues abzugewinnen, wenn auch manchmal nur die Überzeugung, dass Sprachkunst auch von einer ganz anderen Seite her rezipiert werden kann. Aus der Perspektive der Literaturwissenschafterin sind die Beiträge Remigius Bunias und Ulrich Ernsts als besonders ergiebig hervorzuheben, da sie – zusammen gelesen – ein schlüssiges und nachvollziehbares Bild von den großen Zusammenhängen zwischen Literatur, Sprachkunst und Mathematik malen.
In Bomskis und Suhrs Band ist sehr viel die Rede von Unendlichkeit, von Existenz und Nicht-Ezistenz, von der Schönheit des Einfachen und der Flucht in die Abstraktion, und nicht zuletzt von dem Gegensatz zwischen Ratio und Emotion, der in vielen Texten über das mathematische Motiv thematisiert werden kann. Im Zusammenhang mit der filmischen Repräsentation von Mathematik als Vorzeige-Wissenschaft, in der als ‚sexy‘ neu konnotierte, hornbebrillte Nerds tätig sind, zeigen etwa Peter Fiebig und Katrin Klohs luzide auf, wie die Mathematik in einigen Mainstream-Filmen als Folie verwendet wird, um das Selbstverständnis einer bestimmten Ausprägung einer scientific community, besonders im anglo-amerikanischen Raum, zu festigen. Sie erläutern, wie der Logik immer wieder ein, an ontologischen und existenziellen Problemen scheiterndes, Mathematiker-Ich zur Seite gestellt wird, das den Spagat zwischen der Realität und der ‚reinen‘ Welt der Mathematik nicht ausführen kann, ohne schablonenhaft sozial defizitär zu erscheinen. John Nash in „A Beautiful Mind“ ist schizophren, „Good Will Hunting“ verkraftet den sozialen Aufstieg nicht.
‚Denken tut weh‘, wird dem „Mainstream“-Kulturkonsumenten suggeriert, so die Autoren des letzten Beitrags, Jean-Pierre Palmier und Stefan Suhr – besonders, wenn es in Verbindung mit einer Erweiterung des Denkens steht, wie es in jenen Filmen mit mathematischem Thema durchwegs der Fall zu sein scheint. Auch literarische Helden scheitern letztlich an der Exaktheit. Das zeigt Leonhard Herrmann im Zusammenhang mit Daniel Kehlmanns Umgang mit der Mathematik und schreibt der der Literatur allein die Hoheit über das chaotische des absoluten ‚Ganzen‘ zu, indem sie das Scheitern zum Narrativ macht.
Bomskis und Suhrs Buch ist ein bewunderswert offenes Projekt und bereitet einer weiterführenden interdisziplinären Annährung an die ‚großen Themen‘ des Lebens – Anfang und Ende, Sein und Nichtsein, Diesseits und Jenseits – den Boden. Dafür ist diesen Grenzgängern zu danken.
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