Heraus aus dem Nebel der Geschichte

Über Ursula Schulzes „Studien zur Erforschung der deutschsprachigen Urkunden des 13. Jahrhunderts“

Von Jürgen WolfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Wolf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutschsprachigen Urkunden des 13. Jahrhunderts stellen einen Schatz dar, den weder die Literaturgeschichte noch die Sprachforschung bislang vollständig gehoben haben. Nun liegt nach einer Publikationszeit von 24 Jahren (1986-2010) das Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache (WMU) seit zwei Jahren vollständig vor, und man darf gespannt sein, wie die Experten unterschiedlichster Disziplinen diesen gewaltigen Fundus nutzen werden.

Ursula Schulze bietet im vorliegenden Band nicht nur eine konzise, überaus nützliche Bilanz des WMU-Projekts samt Hinführung zum Material selbst, sondern kann als wohl beste Kennerin des Urkundenmaterials gleich mehrere Gewinn versprechende Pfade durch das reichhaltige Material aufzeigen. So führt sie vor, welch enorme Schätze die über 4.500 Urkunden für die Sprachgeschichte, die Linguistik, die Kanzleiforschung, aber auch für die Sprachgeographie und die historische Semantik bereithalten. Unter den rund 1,43 Millionen Belegwörtern finden sich beispielsweise 1.425 Stichwörter, die in den großen mittelhochdeutschen Wörterbüchern (Lexer und BMZ) noch nicht verzeichnet sind. Ganz nebenbei wird der bislang weitgehend im Nebel der Geschichte liegende Weg in die volkssprachige Schriftlichkeit mit jeder aufgearbeiteten Urkunde einstückweit transparenter. Zumal sich die Herstellung deutscher Urkunden nicht selten als programmatischer Akt erweist: Die Verwendung der Volkssprache für ein Rechtsgeschäft ist nicht dem Zufall, noch nicht einmal allein den Bildungshorizonten der beteiligten Rechtsparteien geschuldet, sondern oftmals eine bewusste Entscheidung, ein politisches Signal.

Für Kultur- und Sprachhistoriker gleichermaßen brisant dürfte die Beobachtung sein, dass sich in den deutschen Urkunden anders als in ihren lateinischen Pendants viele Elemente einer mündlichen Rechtspraxis finden bzw. erhalten haben. Man nähert sich damit vorsichtig einer mündlichen Kommunikationssituation, die zugleich regionale Spezifika freizugeben scheint. Die exemplarisch untersuchten deutschen Urkunden im Elsaß mahnen allerdings zur Vorsicht, denn so kleinteilig wie insbesondere von den Literaturwissenschaftlern erhofft – sie suchen seit den Anfängen der modernen Germanistik im 19. Jahrhundert ja geradezu verzweifelt nach den Ursprungsorten der Dichter, ihrer Werke und den Handschriften –, sind die regionalen Eigenheiten eben gerade nicht. Doch die Befunde zum berühmten Münchner „Tristan“-Codex und der nicht minder herausragenden „Kleinen Heidelberger Liederhandschrift“ lassen zumindest eine leise Hoffnung, dass eine Gesamtanalyse des Materials doch noch das erhoffte Licht in die Literatur- und Überlieferungsgeografie der deutschen Literatur bringen könnte. Weit tragfähiger sind die Ergebnisse hinsichtlich einer sich global entwickelnden deutschen Schriftlichkeit im 13. Jahrhundert, wobei überrascht, dass sich sehr früh eine eigene deutsche Rechtssprache neben dem ansonsten alles dominierenden Latein entwickelt.

J. W.

Titelbild

Ursula Schulze: Studien zur Erforschung der deutschsprachigen Urkunden des 13. Jahrhunderts.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2011.
248 Seiten, 69,80 EUR.
ISBN-13: 9783503122608

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