Klassiker der Moderne
Über die Kanonisierung moderner Literatur
Von Dieter Lamping
1. Die historische Moderne
Die Literatur der Moderne ist Geschichte. Das Bewusstsein ihrer Gegenwärtigkeit schwindet zusehends. Schon vor einem halben Jahrhundert sahen manche auf sie zurück, als wäre sie abgeschlossen 1. Das mag seinerzeit verfrüht gewesen sein. Inzwischen hat diese Sicht aber an Berechtigung gewonnen, nachdem auch die Postmoderne, die beanspruchte, die Moderne abzulösen, bereits als überwunden gilt 2. In dem Maß, in dem die literarische Moderne als historisch begriffen wird, stellt sich die Frage nach ihrer Kanonisierung. Die Frage gilt zunächst den Autoren und Werken, die im Gedächtnis der literarischen Öffentlichkeit überdauert haben. Sie zielt damit aber nicht nur auf das, was typisch modern, sondern auch auf das, was mittlerweile klassisch an ihnen ist.
Die Frage, so gewendet, mag im ersten Moment verwirren. Was ein Klassiker ist, weiß jeder Leser – oder meint es zu wissen. Aber ein klassischer Moderner? Von den vielen Verbindungen, die beide Ausdrücke eingegangen sind, scheint diese auf den ersten Blick die paradoxeste zu sein. Sind sie nicht von so unterschiedlicher historischer Reichweite und Logik, dass sie sich geradezu ausschließen? ‚Klassisch’ und ‚Modern’ in Opposition zueinander zu setzen, hat gerade in Deutschland Tradition. Schon Goethe hat das gelegentlich getan, wenn er die eigene Gegenwart mit der Antike verglich, etwa in seinem Aufsatz „Klassiker und Romantiker in Italien“. Seine eigene „Modernität“ 3 bedeutete ihm vor allem Entfernung vom klassischen Altertum.
Das ist nicht der einzige gegensätzliche Gebrauch der beiden Ausdrücke und ihrer Ableitungen geblieben. Anfang des 20. Jahrhunderts war es durchaus üblich, und zwar sowohl bei ihren Apologeten wie bei ihren Kritikern, die Moderne gegen die Weimarer Klassik auszuspielen. Zu den Verächtern der neuen Literatur zählte Karl Kraus. Die dezidiert modernen Schriftsteller, für die er sich aussprach, lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen. Else Lasker-Schüler, Georg Trakl und Bertolt Brecht sind die wichtigsten von ihnen. Unter den deutschen Gedichten, die er für seine Vorlesungen auswählte, sind die wenigen, die sich als modern bezeichnen lassen, von ihnen. Die weitaus meisten stammen bezeichnenderweise aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert 4.
Zahlreicher sind die zeitgenössischen Autoren, zu denen Kraus ein kritisches, ja polemisches Verhältnis pflegte, wie etwa Stefan George und Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler, Franz Werfel und Hermann Bahr. Von ihnen unterschied er sich vor allem in seinem Verhältnis zu den klassischen Autoren der deutschen Sprache. „Nach Goethe“ ist eines seiner bekannteren Epigramme benannt, eine Kontradictio zu Goethes Xenion „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt“. „Nach Goethe“: Das sollte heißen: Auf Goethe folgend und Goethe folgend. In seinem Epigramm „Bekenntnis“ bezeichnete sich Kraus als „einer von den Epigonen / die in dem alten Haus der Sprache wohnen“ 5. In einem emphatischen Sinn verstand er sich als Nachwelt, als Nachfolger der Klassiker, allen voran Goethes 6.
Von einem Klassiker der Moderne oder einem modernen Klassiker zu sprechen, wäre nicht nur Karl Kraus widersinnig erschienen; denn das Klassische, wie er es verstand, ist offenbar nicht modern, das Moderne nicht klassisch. Nicht nur Kraus verwendete die beiden Ausdrücke in diesem einander ausschließenden Sinn. In Deutschland spricht man meist nur von zwei Dichtern als Klassikern: von Goethe und Schiller. Sie haben die – allerdings sehr überschaubare – ‚Epoche’ geprägt, die man hierzulande die Klassik nennt. Modern scheint das zu sein, was nach der Klassik kommt und keinen Bezug zu ihr hat.
2. Was ist ein Klassiker der Moderne?
Eine Gleichsetzung von ‚Klassiker’ mit ‚Autor der Klassik’ scheint eine deutsche Besonderheit zu sein. Welche Epoche jeweils als klassisch bezeichnet wird, schwankt von Literatur zu Literatur 7. In Spanien ist es das Barock, in Frankreich das 17. Jahrhundert, in England das elisabethanische Zeitalter, in Italien gar der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Und auch wenn diese Zeiten als klassisch betrachtet werden, bezeichnet man sie nicht unbedingt so. Selbst die deutsche Klassik wird, außerhalb Deutschlands, zumeist als Teil der Romantik begriffen.
Als Klassiker galten lange Zeit in Europa, auch in Deutschland die Dichter der Antike, der römischen zuerst, dann auch der griechischen. Mittlerweile ist es jedoch durchaus üblich geworden, auch von Autoren als Klassikern zu sprechen, die anderen Epochen als der Antike angehören, anderen selbst als den jeweiligen nationalen Klassiken, wie eben der Moderne. Peter Gay etwa hat in seinem Buch „Die Moderne“ den großen zweiten Teil für „Klassiker“ reserviert 8. Was also ist ein Klassiker?
Die sozusagen klassische Antwort ist einfach: Ein Klassiker ist ein Autor oder ein Text, der überlebt oder, wie John M. Coetzee gesagt hat: „eine lange Zeit überdauert hat“ 9. Coetzee hat sich dabei auf Horaz berufen, der zwar nicht den Begriff ‚Klassiker’ (oder ‚classicus’) verwendet hat, dafür aber das Maß dieses ‚Überdauerns’ definiert hat: einhundert Jahre. Diese einfache, eher pragmatische Antwort wirft aber gleich zumindest eine neue Frage auf: Was ist denn der Grund dafür, dass ein Buch überdauert? Die wiederum einfachste Antwort auf diese Frage nennt die besondere ästhetische Qualität des jeweiligen Werks, das gern als ‚Meisterwerk’ apostrophiert wird. Sein Autor gilt dann selbst als Meister. In diesem Sinn hat etwa Peter Gay die ‚Klassiker’ der Moderne als ‚moderne Meister’ bezeichnet 10. Auch damit sind allerdings wieder weniger Fragen beantwortet, als sich neue stellen.
Was einen Autor zu einem Meister macht, hat T.S. Eliot in seinem berühmten Essay „Was ist ein Klassiker? (What is a Classic?)“ zu beschreiben versucht. Auch für Eliot ist ein Klassiker ein Autor, der ein „überragendes Meisterwerk der Dichtung geschrieben“ 11 hat. Bei dieser Feststellung bleibt er aber nicht stehen. Mit seinem „Meisterwerk“ hat ein solcher Dichter nach Eliot einen Maßstab gesetzt, so dass wir „jedes einzelne Werk der Literatur nach ihm beurteilen“ 12. Die Bedeutung eines klassischen Autors wie etwa Vergils sieht Eliot denn auch darin, „daß er uns zu einer kritischen Norm verhilft“ 13. Das Klassische ist so letztlich „eine Entwicklung in Richtung auf einen gemeinverbindlichen Stil“ 14.
Eliot hat in einem weiteren Schritt dann versucht, zu bestimmen, was genau die ‚gemeinverbindliche’ Wirkung des Klassischen begründe. Maßgeblich in diesem Essay ist das Stichwort ‚Reife’, mehrfach aufgefächert als „Reife des Geistes, Reife der Sitten, Reife der Sprache und Vervollkommnung des gemeinverbindlichen Stils“ 15. Als Eliot 1954 den Hansischen Goethe-Preis erhielt, versuchte er in einer verwandten Fragestellung zu definieren, was ein europäischer Schriftsteller nach Vergil sei, also ein nach-antiker Klassiker 16. Fünf Merkmale listete er dabei auf: Fülle, Weite, Einheit, Universalität und Weisheit. Alles in allem wusste er aber nur drei Dichter zu nennen, die sie erfüllten: Dante, Shakespeare und Goethe – die kleine exklusive Gesellschaft der europäischen Klassiker nach der Antike.
In dem weitesten Sinn, in dem Eliot einen Klassiker definiert: als Autor eines Meisterwerks, kann man durchaus von Klassikern der Moderne oder modernen Klassikern sprechen. Über den hohen ästhetischen Rang einiger Werke der Moderne besteht weitgehend Einigkeit: Charles Baudelaires „Fleurs du mal“ gehören dazu, Tschechows „Drei Schwestern“, nach Peter Szondi „vielleicht das vollendetste der Tschechowschen Dramen“ 17, oder Marcel Prousts „À la recherche du temps perdu“, der „glanzvolle Endpunkt des klassischen Romans“ 18, wie ihn Harold Bloom genannt hat – und manch andere mehr. Solche Meisterwerke hat es zu allen Zeiten gegeben, auch in der Moderne.
Schwerer würde es dagegen fallen, den Ausdruck ,Klassiker’ in dem engeren Sinn, in dem Eliot ihn verwendet, auf moderne Autoren anzuwenden. Der Grund dafür ist aber nicht unbedingt ein Mangel an historischem Abstand. Goethe war nicht einmal 120 Jahre tot, als Eliot ihn ehrte, und selbst Shakespeare und Dante galten damals noch nicht viel länger außerhalb ihrer Literaturen als Klassiker. Viel geringer ist auch der Abstand nicht, den wir heute zumindest zu Autoren der frühen Moderne wie Baudelaire und Mallarmé haben. Es sind letztlich die Kriterien Eliots, die sich schlecht auf moderne Schriftsteller anwenden lassen.
3. Der Klassiker der Moderne
Wenn es einen Dichter der Moderne gibt, den man am ehesten klassisch nennen würde, dann ist es Charles Baudelaire. Doch kann man bei diesem neurotischen, in mancher Hinsicht infantilen Dandy, der sein beträchtliches Erbe binnen kurzem verprasste, zeitweise in einem Bordell lebte und am Ende durch die Folgen einer Syphilis-Erkrankung der Sprache beraubt war, von Reife sprechen? Von Reife des Geistes oder der Sitten? Selbst von seiner zu Recht viel gerühmten Sprache wird man das kaum behaupten können: Nicht Reife, Dekadenz ist ihr immer wieder bescheinigt worden.
Ebenso wenig wird man ihm, bei aller Intelligenz, Weisheit nachrühmen können. Schon sein letztes, unvollendetes Werk „Pauvre Belgique!“ („Armes Belgien!“), eine einzige, selten witzige, meistens verrückt wirkende Hasstirade gegen ein kleines Land und seine Bewohner, würde einen davon Abstand nehmen lassen. Auch von Einheit, und sei es nur einer Einheit des Werks, kann bei Baudelaire kaum die Rede sein. Sein Werk war nicht abgeschlossen, als er starb. Es war nur abgebrochen, bedingt durch seine schwere Erkrankung. Seine Gedichte und Prosagedichte, Kunstkritiken, Essays und Übersetzungen ergeben auch kaum ein Ganzes – ganz abgesehen von der Frage, ob seine Prosa den gleichen künstlerischen Rang beanspruchen kann wie seine Lyrik.
T.S. Eliot hat, auch aus diesen Gründen, über Baudelaire abwägend geurteilt. Gegen die Charakterisierung als „fragmentarischer Dante“ setzt er die „Kennzeichnung Baudelaires als einen späteren und begrenzteren Goethe“: „Wie wir ihn jetzt zu sehen beginnen, vertritt er sein Zeitalter etwa auf dieselbe Weise, wie Goethe ein früheres Zeitalter vertritt“ 19. Doch wenn man Baudelaire mit Dante oder Shakespeare vergleiche, „soweit ein solcher Vergleich überhaupt sinnvoll ist“, stelle er sich „nicht nur als ein viel geringerer Dichter dar, sondern auch als einer, in dessen Werk viel mehr Vergängliches Eingang gefunden“ habe. Baudelaire besitze die „äußere, aber nicht die innere Form klassischer Kunst“ 20. Seine „technische Meisterschaft“ 21 sei groß; aber seine Stärke sei negativ gewesen: eine „Stärke nur zum Leiden“: „Er konnte nicht umhin zu leiden und konnte nicht darüber hinauskommen: so zog er selber die Pein an sich heran“ 22. „Und in dieser Begrenztheit“, fährt Eliot fort, sei Baudelaire „ganz verschieden von Dante“ 23 – und von Goethe, wie man hinzufügen müsste. Nachdem Eliot so Baudelaire, mal mehr, mal weniger, von den Klassikern abgerückt hat, charakterisiert er ihn bezeichnenderweise als einen modernen Autor: „Baudelaire ist in der Tat das größte Beispiel moderner Dichtung in irgendeiner Sprache“ 24.
Es scheint auch für Eliot ausgemacht zu sein, dass ein Moderner kein Klassiker sein könne. Bedenkt man seinen Kulturkonservatismus, ist das nicht weiter verwunderlich. Wenn Eliot Vergil zu dem Klassiker erklärt, nachdem dessen jahrhundertelang strahlender Ruhm bereits verblasst war, dann macht er sich zum Fürsprecher einer „abendländische[n] christliche[n] Zivilisation“ 25, die vor allem römisch und katholisch ist. Dieses Verständnis von Europa und europäischer Kultur war allerdings schon 1944 ein Anachronismus, als Eliot seine Rede hielt.
4. Moderne und Tradition
Gleichwohl macht die Feststellung, Baudelaire sei „das größte Beispiel moderner Dichtung in irgendeiner Sprache“, auf ein Problem aufmerksam. Baudelaires „Vers und seine Sprache“, erläutert Eliot, „bedeuten die größte Annäherung an eine vollständige Erneuerung, die wir erlebt haben“ 26. Es ist gerade diese Vorstellung von Modernität als ‚vollständiger Erneuerung’, die es Eliot schwer, ja unmöglich macht, sie mit Begriffen wie ‚klassisch’ oder ‚Klassiker’ in Verbindung zu bringen.
Das Neue, die Erneuerung ist die wichtigste poetologische Denkfigur der Moderne 27. Schon Baudelaire hat programmatisch von der „sensation du neuf“: der „Empfindung des Neuen“ 28 gesprochen, die die Kunst hervorrufen solle. Damit hat er der modernen Literatur das wichtigste poetologische Stichwort geliefert, das von zahlreichen späteren Autoren aufgegriffen worden ist. Noch Octavio Paz hat, ungefähr 150 Jahre später, als Kennzeichen der Moderne „die Idee der neuen Kunst“ bezeichnet, „die sich auf den Bruch mit der unmittelbaren Vergangenheit gründet“ 29. Auch in der Wissenschaft ist es längst üblich, Begriffe wie „Revolution“ 30 oder „Traditionsbruch“ 31 zu bemühen, um die Moderne zu kennzeichnen.
Diese Formeln besagen nicht nur, dass die moderne Literatur durch die ‚vollständige Erneuerung’, die sie angestrebt habe, mit der Tradition gebrochen habe – Baudelaire etwa mit der Tradition der schönen Kunst, wie sie seit der Renaissance mehr oder weniger unangefochten galt. Die Formel ist auch so zu verstehen, dass die Moderne, indem sie sich immer wieder selbst erneuert habe, keine eigene Tradition ausgebildet habe – oder eben nur die sozusagen traditionsfeindliche Tradition des Traditionsbruchs, wenn es denn so etwas gibt. Eben das ist das Programm der großen Avantgarden vom Futurismus über den Dadaismus bis zum Surrealismus gewesen: die permanente ästhetische Innovation, ja Revolution. Ezra Pounds „flotte Losung“ 32: „Make it new!“ ist nicht ohne Grund als die Programmformel der Moderne angesehen worden. In diesem Verständnis wäre dann ein Ausdruck wie ‚Klassiker der Moderne’ tatsächlich in sich widersprüchlich, ja geradezu unsinnig.
Doch die Poetik der Moderne ist das eine, ihre Poesie das andere. Die Theorie vom modernen ‚Traditionsbruch’ ist in der deutschen Literaturwissenschaft von Hugo Friedrich zuerst formuliert worden, und zwar im Hinblick auf Baudelaire, nachdem Eliot sie in seinem Essay schon gut 25 Jahre vorher, 1930, aufgestellt hatte. Tatsächlich kann man gerade an Baudelaires Lyrik erkennen, wie tief der Bruch mit der literarischen Tradition in der Moderne wirklich geht. Er mag, in seinem Hang zum Leiden, in seinem Interesse für das Hässliche und Böse der erste Dichter moderner Negativität gewesen sein. Dennoch wird die Rede von der ‚vollständigen Erneuerung’ seinem Werk nicht gerecht. Er hat keineswegs mit aller Tradition gebrochen. Nur das auffälligste Zeichen dafür ist seine Vorliebe für die klassische Form des Sonetts, ein weniger offensichtliches seine zahlreichen, mal ausdrücklichen, mal versteckten Bezugnahmen auf die abendländische Dichtung von Ovid über Petrarca bis zu Victor Hugo, dem er eines der Gedichte seiner „Fleurs du mal“, „Le Cygne“, widmete.
Aber noch in einer zweiten Hinsicht trifft das Wort vom Traditionsbruch sein Werk nicht. Baudelaire hat wie kein anderer moderner Dichter selbst eine Tradition begründet. Seine Gedichte sind in alle großen und zahllose kleine Literatursprachen übersetzt worden. Es dürfte kaum einen Lyriker des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts geben, der ihn nicht gelesen hat, und nur wenige, die sich nicht auf ihn bezogen haben. Eliot ist keineswegs der einzige, der sich auf Baudelaire berufen konnte. Im ausgehenden 19. Jahrhundert war Algernon Charles Swinburne dessen größter Verehrer in der englischen, ähnlich wie Filippo Tommaso Marinetti oder später Eugenio Montale in der italienischen, Rainer Maria Rilke in der deutschen Literatur. Zum Teil tiefe Spuren einer Baudelaire-Rezeption finden sich aber auch bei anderen deutschen Autoren wie Stefan George, Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Paul Celan – um nur sie zu nennen. Baudelaire ist somit auch ein Beispiel dafür, dass ein moderner Dichter sehr wohl einen ‚gemeinverbindlichen Stil’ schaffen kann. Wenn es in diesem Sinn einen Klassiker der Moderne gibt, dann ist tatsächlich er das.
Bedenkt man den Fall Baudelaire, so wäre auf die Frage, was ein Klassiker der Moderne sei, also vor allem die eine Antwort zu geben: ein Autor, der repräsentativ für die moderne Literatur ist, indem er zumindest ein Werk geschaffen hat, das in seiner Modernität selbst eine Tradition begründet hat. Es sind somit gleichermaßen Eigenschaften des Werks und Momente seiner Wirkung, die ihm den Status eines Klassikers sichern.
Das sind zunächst literarische Fakten. Es mag sich aber von selbst verstehen, dass dabei jeweils auch Wertungen oder Wertschätzungen im Spiel sind: Wertschätzungen, die sich in der Rezeptionsgeschichte ausdrücken und die sich unter anderem auf Bewertungen des Werks gründen. Von einem Text, der klassisch genannt wird, wird vor allem erwartet, dass er auf hohem literarischem Niveau verwirklicht, was als epochentypisch gilt. Neben Repräsentativität wird von ihm ästhetische Perfektion und Komplexität verlangt.
Die Rede von einem – modernen – Klassiker setzt also immer einen Rezeptionsprozess voraus, der auch ein Kanonisierungsprozess ist. Klassisch wird ein Text dadurch, dass er die Leser, zumal die Leser, die selbst Autoren sind, immer wieder und immer weiter zu beschäftigen vermag und fortdauernd neue Lektüren verträgt, ja herausfordert. Doch selbst wenn sich in die Analyse eines solchen Klassikers Fragen der ästhetischen Wertung mischen, stehen für den Literaturwissenschaftler die Beschreibung des Werks und die Rekonstruktion seiner vor allem produktiven Rezeption im Vordergrund, also Momente der Textualität und Intertextualität.
5. Drei moderne Klassiker der deutschen Literatur
Innerhalb der deutschen Literatur sind es vor allen anderen drei Dichter, die man Klassiker der Moderne nennen kann und auch oft genannt hat: Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Franz Kafka. Auf den ersten Blick scheinen sie nicht viel gemeinsam zu haben. Anders als viele Expressionisten und Dadaisten bilden sie keine Gruppe, schon weil sie nie zusammen am selben Ort gewohnt haben. Hofmannsthal und Kafka haben ihr Leben zum größten Teil in einer Stadt verbracht: Hofmannsthal im Weichbild Wiens, Kafka in Prag. Rilke dagegen führte ein unstetes Wanderleben, mit Stationen in ganz Europa, darunter auch Wien. Nur gelegentlich kreuzten sich ihre Lebenswege. Rilke war mit Hofmannsthal fast befreundet, Rilke ist früh auf Kafka aufmerksam geworden, Kafka hat Rilke und Hofmannsthal gelesen und zumindest Hofmannsthal bei einer Lesung in Prag auch gehört, ohne dass ihn das tief beeindruckt hätte.
So verschieden wie die Biografien sind auch die Werke. Rilke war vor allem Lyriker, daneben auch Romancier und in seinen jungen Jahren ein zu recht erfolgloser Dramatiker. Hofmannsthal war vor allem Dramatiker, daneben anfangs ebenso Erzähler und Essayist und für eine kurze Zeit in seiner Jugend ein hoffnungsvoller, von vielen, auch von Rilke verehrter Lyriker. Kafka schließlich war so gut wie ganz Erzähler, allenfalls noch Aphoristiker.
Was sie dennoch miteinander verbindet, ist ihre Bedeutung für die moderne Literatur in deutscher Sprache. An deren Entstehung und Weiterentwicklung haben sie wesentlichen Anteil. Jeder von ihnen hat, auf seine Weise, die Vorstellungen von dem, was moderne Literatur sei, entscheidend geprägt: Hofmannsthal in der Lyrik und im Drama, Rilke vor allem in der Lyrik und im Roman, Kafka im Roman und in der Erzählung. Sie sind, in ihrer Zeit, nicht die einzigen Autoren, denen das gelungen ist. Aber sie haben durch ihre Werke nachhaltiger gewirkt als ihre Zeitgenossen: Hofmannsthal nachhaltiger als Gerhart Hauptmann; Rilke nachhaltiger als Stefan George; Kafka nachhaltiger als Alfred Döblin oder Robert Musil.
Aber nicht nur, was Hofmannsthal, Rilke und Kafka als Autoren der Moderne miteinander verbindet, auch was sie voneinander unterscheidet, ist nicht zu übersehen. Jeder von ihnen ist in einer Hinsicht modern, die sich von der der beiden anderen abhebt. Hofmannsthal hat auf vielerlei Weise, nicht nur im Mysterienspiel, mit der naturalistischen Dramatik gebrochen, Rilke im ‚sachlichen Sagen’ der Dingdichtung mit der Tradition der Erlebnis- und Stimmungslyrik, Kafka vor allem in seinen Erzählungen mit der Logik des psychologisch-realistischen Erzählens. Erkennbar wird an ihnen neben der Konstanz die Variabilität literarischer Modernität. Ästhetische Erneuerung lässt sich offenbar, zur selben Zeit, auf vielerlei Weise erreichen, und ihr Spielraum wird durch Hofmannsthal, Rilke und Kafka zu einem großen Teil abgedeckt, ohne ausgeschöpft zu werden.
Klassiker der Moderne sind Hofmannsthal, Rilke und Kafka aber auch in demselben Sinn, wie Baudelaire es war, indem sie Traditionen moderner Literatur begründet haben. Am wenigsten, so scheint es, hat Hofmannsthal auf Dauer außerhalb der deutschen Literatur gewirkt, obwohl sein Werk in viele Sprachen übersetzt wurde und er prominente Übersetzer etwa in Tommaso Landolfi und Michael Hamburger fand. Die Wirkungsgeschichte Hofmannsthals ist jedoch voller Wechselfälle, schon zu Lebzeiten, erst recht nach seinem Tod. Als 2002, 100 Jahre nach der ersten Veröffentlichung, eine große deutsche Tageszeitung Schriftsteller bat, auf den Brief des Lord Chandos zu ,antworten’, beteiligten sich an dieser Hommage neben Ilse Aichinger, Durs Grünbein, Thomas Hürlimann, Brigitte Kronauer, Monika Maron, Friederike Mayröcker, Marlene Streeruwitz und Feridun Zaimoglu auch nicht-deutschsprachige Autoren wie Louis Begley, James Salter und John M. Coetzee 33. Zusammen bezeugen sie das lange Fortleben eines ebenso kurzen wie folgenreichen Textes. Seine Bedeutung noch für die Gegenwartsliteratur, für deren Beweis oft auch noch auf Botho Strauß und Peter Handke verwiesen wird 34, ist damit keineswegs erschöpfend beschrieben. Wenn es aus der Sicht nachgeborener Autoren einen klassischen Text Hofmannsthals gibt, dann dürfte es „Ein Brief“ sein.
Mehr als Hofmannsthal ist Rilke, bis heute, ein Autor von nicht nur deutscher, sondern internationaler Ausstrahlung. Man ist es seit langem gewöhnt, Rilke vor allem im Zusammenhang der deutschen Literatur zu sehen. Doch ist er nicht weniger ein europäischer Autor, der mit Leo Tolstoi, Maxim Gorki, André Gide, Paul Valéry, Boris Pasternak und Marina Cvetaeva in Kontakt war und dessen Werk von Autoren wie Robert Musil, W.H. Auden, Robert Lowell und Paul Celan produktiv rezipiert wurde 35.
Kaum ein moderner Autor schließlich hat eine so rasante internationale Karriere gemacht wie Franz Kafka – wenn auch nur posthum. Innerhalb von gut zwanzig Jahren nach seinem frühen Tod wurden seine Werke, allen voran die Romane, in alle großen und einige kleinere Literatursprachen übersetzt. Einflussreiche Kritiker auf der ganzen Welt wurden auf sie aufmerksam; schnell wurden sie auch von zumeist jüngeren Autoren vor allem in Frankreich, England und den USA entdeckt. Kafkas oft beschriebener Aufstieg zum modernen Klassiker gehört zu den spektakulärsten Karrieren der Weltliteratur 36.
Hofmannsthal, Rilke, Kafka: Jeder von ihnen ist ein Klassiker der Moderne, jeder auf seine Weise und auf einem anderen literarischen Gebiet und doch in zweierlei Hinsicht vergleichbar. Jeder von ihnen repräsentiert zunächst eine Art von moderner Literatur und literarischer Modernität durch Werke, die deutlich von der Tradition abweichen, ohne mit ihr vollkommen zu brechen. Darüber hinaus hat jeder von ihnen auch eine Tradition moderner Literatur begründet, vor allem durch produktive Rezeptionen innerhalb und außerhalb der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Alle drei zählen so zur – europäischen – Weltliteratur, auf die sie sich, jeder auf seine Weise, bezogen haben und die wiederum sich auf sie bezogen hat.
Hofmannsthal, Rilke, Kafka sind zugleich typische und prominente Vertreter der Moderne. Zweideutig an ihrer Klassizität mag dabei erscheinen, dass sie sich zugleich von einer Tradition entfernt – und darin wieder eine neue gestiftet haben. Allerdings ist das, genau betrachtet, nicht ein Spezifikum moderner Klassiker. Auf dieser Dialektik von Innovation und Tradition, von Traditionsbruch und Traditionsbildung basiert vielmehr alle literarische Entwicklung. Insofern verlieren dann auch am Ende Ausdrücke wie ‚Klassiker der Moderne’ oder ‚moderne Klassiker’ ihre scheinbare Widersprüchlichkeit.
1 Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Nachwort: In: Ders. (Hg.): Museum der modernen Poesie. Mehrsprachige Ausgabe. Frankfurt a.M. 2002, S.765-784, hier S. 765.
2 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Moderne und Postmoderne etwa Peter V. Zima: Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur. 2. Auflage Tübingen, Basel 2001.
3 Vgl. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. München 2. Aufl. 1984, S. 56.
4 Vgl. Karl Kraus: Lyrik der Deutschen. Für seine Vorlesungen ausgewählt. Hg. von Christian Wagenknecht. München 1990.
5 Karl Kraus: Bekenntnis. In: Ders.: Gedichte. Hg. von Christian Wagenknecht. Schriften. Band 9. Frankfurt a.M. 1989, S. 93.
6 Vgl. dazu ausführlicher Hans Mayer: Karl Kraus. In: Ders.: Der Repräsentant und der Märtyrer. Konstellationen der Literatur. Frankfurt a.M. 1971, S. 45-64.
7 Vgl. dazu Wilhelm Vosskamp (Hg.): Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposium 1990. Stuttgart, Weimar 1993.
8 Vgl. Peter Gay: Die Moderne. Eine Geschichte des Aufbruchs. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Frankfurt a.M. 2008, S. 132.
9 J.M. Coetzee: Was ist ein Klassiker? In: Ders.: Was ist ein Klassiker? Essays. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. Frankfurt a.M. 2006, S. 11-30, hier S. 15.
10 Vgl. etwa ebd., S. 222.
11 T.S. Eliot: Was ist ein Klassiker. In: Ders.: Essays 1. Kultur und Religion, Bildung und Erziehung, Gesellschaft, Literatur, Kritik. Frankfurt a.M. 1988, S. 241-268, hier S. 258.
12 Ebd., S. 264-265.
13 Ebd., S. 264.
14 Ebd., S. 247.
15 Ebd., S. 251.
16 Vgl. T.S. Eliot: Goethe der Weise. In: Ders.: Essays 2. Literaturkritik. Frankfurt a.M. 1988, S. 298-324.
17 Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt a.M. 9. Aufl. 1973, S. 32.
18 Harold Bloom: Die Kunst der Lektüre. Wie und warum wir lesen sollten. Aus dem amerikanischen Englisch von Angelika Schweikhart. München 2. Aufl. 2000, S. 193.
19 T.S. Eliot: Baudelaire. In: Ders.: Essays 2. Literaturkritik. Frankfurt a.M. 1988, S. 223-235, hier S. 224.
20 Ebd., S. 228.
21 Ebd., S. 229.
22 Ebd., S. 227.
23 Ebd.
24 Ebd., S. 230.
25 J.M. Coetzee: Was ist ein Klassiker? In: Ders.: Was ist ein Klassiker? Essays. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. Frankfurt a.M. 2006, S. 11-30, hier S. 15.
26 Eliot: Baudelaire, S. 230.
27 Vgl. dazu etwa Dieter Lamping: Moderne Lyrik. Göttingen 2008; Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache – Ästhetik – Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004.
28 Charles Baudelaire: Sämtliche Werke/ Briefe. Hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. Band 5. München, Wien 1989, S. 141.
29 Octavio Paz: Die andere Stimme. Dichtung an der Jahrhundertwende. Aus dem Spanischen von Rudolf Wittkopf. Frankfurt a.M. 1994, S. 9.
30 Vgl. etwa Hans Sedlmayr: Die Revolution der modernen Kunst. Hamburg 1955.
31 Vgl. dazu Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Erweiterte Neuausgabe. Hamburg 1967, S. 64.
32 Peter Gay: Die Moderne. Eine Geschichte des Aufbruchs. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Frankfurt a.M. 2008, S. 25.
33 Vgl. Roland Spahr, Hubert Spiegel und Oliver Vogel (Hg.): Lieber Lord Chandos. Antworten auf einen Brief. Frankfurt a.M. 2002.
34 Vgl. Hubert Spiegel: Nachwort. In: Roland Spahr, Hubert Spiegel und Oliver Vogel (Hg.): Lieber Lord Chandos, S. 245-252.
35 Vgl. dazu Manfred Engel und Dieter Lamping (Hgg.): Rilke und die Weltliteratur. Düsseldorf, Zürich 1999.
36 Vgl. dazu v.a. Hartmut Binder (Hg.): Kafka-Handbuch in zwei Bänden. Band 2: Das Werk und seine Wirkung. Stuttgart 1979; außerdem Thomas Anz: Franz Kafka. Leben und Werk. München 2009, S. 7-18.