Nach der Vernunft?
Norbert Bolz liest Niklas Luhmann im Hinblick auf die „Grenzen der Aufklärung“
Von Willi Huntemann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche, Jacques Lacan und Michel Foucault teilt Niklas Luhmann das Schicksal, den Großteil seiner Inspirationskraft außerhalb der eigenen Disziplin entfaltet zu haben. Dass dem soziologischen Großtheoretiker nun mit Norbert Bolz ein Fachfremder ein einführendes Bändchen gewidmet hat, tut Luhmann wie dem Leser gut; gerade in der Außensicht kommt manches in den Blick, das sonst zu kurz käme und die Darstellung verstrickt sich nicht so leicht in den Jargon ihres Gegenstandes. Nun ist für Luhmann die Zeit der Einführungen auch vorbei, ist er doch längst ein etablierter Klassiker, der gewissermaßen zur Interpretation freigegeben ist. Ein Anzeichen dafür ist der 2010 von Wolfram Burckhardt herausgegebene Sammelband „Luhmann Lektüren“ (siehe literaturkritik.de 11/2010), auf dessen Linie die vorliegende Monografie liegt. Der ausgewiesene Luhmann-Kenner Bolz, in dessen zeitdiagnostischen Schriften der Bielefelder Sozialtheoretiker ständiger Referenzautor ist, wählt denn auch einen Zugang, der von den bereits vorliegenden Einführungen im strikten Sinne abweicht. Weder nimmt er die Grundbegriffe der Systemtheorie zum Ausgangspunkt noch orientiert er sich an den Gegenstandsbereichen, den Funktionssystemen der Gesellschaft, die der Systemtheoretiker in einer langen Serie von Monografien quasi abgearbeitet hat. Der Medientheoretiker Bolz nutzt die für Luhmann charakteristischen Theoreme und Denkfiguren als Knotenpunkte, um weniger dessen imposantes Theoriegebäude, geschweige denn dessen Genese und Werkphasen, in toto nachzuzeichnen als vielmehr seinen Denkstil, zu dem eine besondere Vorliebe für Paradoxien und kontraintuitive Einsichten gehört, herauszuarbeiten. Die verschiedenen, ineinander verwobenen Theoriestränge Luhmanns – Kybernetik, radikaler Konstruktivismus und Systemtheorie – scheinen dabei ad hoc auf. Der Autor verzichtet dabei programmatisch auf die Auseinandersetzung mit der fast nicht mehr überschaubaren Sekundärliteratur und geht überdies überhaupt äußerst sparsam mit Fußnoten um, was das Buch recht schlank und gut lesbar macht.
Gleich im ersten Kapitel, „Luhmann in nuce“, bewährt sich dieses originelle Darstellungsverfahren: Geschickt ausgewählte Stellen aus dem Gesamtwerk einschließlich der Interviews werden in der Art eines Stellenkommentars zu Schlüsselsätzen des Luhmann‘schen Denkens, da sie entweder für sich genommen unverständlich sind oder in prägnanter Zuspitzung gezielt den common sense herausfordern. Darunter sind viel zitierte Äußerungen wie: „Der Mensch interessiert mich nicht“ – lapidare Formulierung des methodischen Antihumanismus‘ Luhmanns – oder gar: „Nie wieder Vernunft!“. In dieser wohl erläuterungsbedürftigen Formel legt der Kommentator den Überbietungsanspruch gegenüber der klassischen, vernunftzentrierten Philosophie frei: „An die Stelle von Vernunft tritt seither die Beobachtung zweiter Ordnung, das heißt die Beobachtung von Beobachtern. Sie ersetzt die privilegierte Beobachtung, die es in einer polyzentrischen Welt nicht mehr geben kann“.
Hier hat auch die Leitmetapher der Ratten im Labyrinth ihren Ursprung, die der Autor für seinen etwas plakativen Buchtitel verwendet. Sie fasst als Bild sowohl die theoretische Position des Soziologen, der selbst nur eine Ratte im Labyrinth ist und kein externer, privilegierter Beobachter, als auch den Zustand der modernen Welt zusammen: eine Orientierung ist immer nur schrittweise und kontextgebunden im Rahmen einer „bounded rationality“ (Herbert Simon) möglich.
Nach einem Abschnitt zu Luhmanns Kommunikationstheorie mit ihrer kontraintuitiven Pointe, dass Bewusstsein und Kommunikation disparat zueinander sind und der Mensch keineswegs das Subjekt der Kommunikation ist, sondern zu deren Umwelt gehört, umreißt der Autor anschließend die Globalisierung in der Theoriesicht Luhmanns, als „Theorie der Weltgesellschaft“ mit den mittlerweile geläufigen Stichworten „Komplexität und Kontingenz, Ungewissheit und Unsicherheit“, wobei er auch auf dessen Medientheorie eingeht. Wer die Publikationen von Norbert Bolz kennt, wird hier auf nicht viel Neues stoßen. Auch hier wieder eine kontraintuitive Pointe: Die Systeme in ihrer Funktionalität und Teil-Rationalität negieren nicht etwa die Freiheit des Menschen, sondern bedingen sie, da der Mensch nie als Ganzer involviert ist und immer zum Außen der Systeme gehört. Diese operational und rein kognitiv gedachte Freiheit ist allerdings nicht mehr als Wahlfreiheit, eher nur Unberechenbarkeit. An anderer Stelle heißt es: „Der Einzelne erfährt Freiheit, wenn er eine Entscheidung sich selbst zurechnet. […] Die Entscheidungen des Einzelnen sind belanglos und/oder folgenlos. Die belanglosen Entscheidungen konstituieren die Welt des Konsum, die folgenlosen Entscheidungen inszenieren sich auf den Szenen des Protests“. Angesichts dieser trockenen, fast schon zynisch anmutenden Zuspitzung möchte man fragen, wie man sich zu diesem Theorieentwurf verhalten soll, welchen Orientierungswert er über die reine Deskription hinaus hat.
Wiederholt wird der konkurrierende, große gesellschaftstheoretische Entwurf von Jürgen Habermas genutzt, um kontrastiv Luhmanns Theorie in ihren Ansprüchen und Antworten zu profilieren – nicht nur in einem eigenen (bereits im oben genannten Sammelband publizierten) Kapitel, das der frühen Habermas-Luhmann-Kontroverse gewidmet ist. Bolz nennt sie eine „Phantomdebatte“, da es keine wechselseitige Befruchtung gab, und macht keinen Hehl daraus, auf welcher Seite er steht. Eine sich emanzipatorisch-aufklärerisch verstehende Sozialphilosophie in der „alteuropäischen“ Vernunfttradition einerseits, die auf Konsens als Leitbegriff setzt, und andererseits eine sich antinormativ verstehende, funktionalistische Systemtheorie der Gesellschaft, welche die höhere Kybernetik zum Modell nimmt, differenztheoretisch fundiert ist und statt emanzipatorischen Diskursen „Beobachtung“ und deren Iteration anstrebt, kommen nicht einmal im Basiskonzept der Kommunikation überein. Eine polemische Zuspitzung wie die folgende wäre Luhmann selbst wohl nicht unterlaufen und dürfte kaum Zustimmung finden: „Wer lernbereit ist, strukturiert seine Erwartungen nicht normativ, sondern kognitiv. Lernfähigkeit ist also das Gegenteil von normativer Orientierung“. Sie trifft aber den Geist von Luhmanns Moraltheorie: Er begreift – bedingt durch theoretische Zwänge – Moral nur als moralische Kommunikation, unterscheidet mithin nicht zwischen Moral und „polemogenem“ Moralisieren, so als gäbe es keine in der Sache begründeten moralischen Dilemmata. (Es scheint hier eine eigentümliche Parallele zu Hegel zu bestehen, mit dem Luhmann oft verglichen wurde, dessen Systemphilosophie ebenfalls keine selbstständige Ethik kennt.) Leider geht Bolz darauf nicht ein. Dafür räumt er Luhmanns origineller, stringent aus seiner Theorie heraus entwickelten Neudeutung des Teufels als Widersacher Gottes, die eine „Entübelung des Diabolischen“ betreibt, ein ganzes Kapitel ein: „der Teufel ist der ewige Beobachter, von dem die Menschen das Unterscheiden lernen“, das „Maskottchen des Konstruktivismus“. Es ist dies, nach Peter Sloterdijk, der diesem Thema auch schon einen Essay gewidmet hat, sicher nicht die letzte Auslassung zu diesem Motiv, das in seiner Archaik gerade in einer hochabstrakten Theorie zu Aufmerksamkeit reizt.
Im Schlusskapitel, in dem Bolz eine kritische Evaluation von Luhmanns Theorieentwurf versucht, entfaltet er das aus der Kybernetik zweiter Ordnung entlehnte Theorem des blinden Flecks (Heinz von Foerster), um es auf Luhmann selbst anzuwenden. Jede beobachtungsgeleitete Theorie ist stets perspektivisch; sie hat einen blinden Fleck, einen Standpunkt, der einerseits selbst nicht wahrgenommen werden kann und daher die Sicht begrenzt, andererseits aber konstitutiv für das Sehen ist: „Einsicht gibt es nur durch Blindheit“. Da Luhmann sich aber dessen bewusst ist, macht ihn das gegen Kritik immun; er kann nicht (ideologiekritisch) „entlarvt“ werden. So bleibt nur eine Andeutung all dessen, was Menschen umtreibt (wie Gefühle, Begehren, Macht, Werte, Moral) und wozu der unbefangene Leser Orientierung erhofft, was aber bei Luhmann – im Bewusstsein des Verzichts – theoriebedingt nicht zur Geltung kommt: „Das, was für dich und mich, wirklich wichtig ist, ist unwichtig für die Theorie“, heißt es pointiert.
Mit Carl Schmitt führt Bolz das scheinbar theoretische Unterscheiden auf das politische Entscheiden zurück: „Das Vorurteil ist die kognitive Prävention. Und der Feind ist das erste Vorurteil“. Als weitere ideengeschichtliche Koordinaten bietet Bolz neben Martin Heidegger und Max Weber überraschenderweise die Frühromantiker mit ihrem „Romantisieren“ auf: Luhmann als Romantiker! Wenn man mit Luhmann „Gesellschaft als autopoietisches Kunstwerk“ auffasst, wird spätestens hier deutlich, dass Forderungen nach einer „kritischen“ Gesellschaftstheorie und der Vorwurf der Apologetik des Bestehenden ins Leere laufen; das ganze Theoriegebäude will offenbar letztlich selbst wie ein Kunstwerk rezipiert werden.
Auch wenn der Untertitel des Buches „Die Grenzen der Aufklärung“ nicht den Fokus der Argumentation bildet – nur im Zusammenhang mit der Labyrinth-Metapher und dem Konzept des blinden Flecks taucht der Gedanke noch auf und wird nicht stringent entfaltet – so werden doch die Grundzüge der Theorie nachvollziehbar dargestellt, nicht zuletzt weil Bolz nicht die technische Theoriesprache Luhmanns übernimmt, sondern bei aller Sympathie für ihn durch ideengeschichtliche Assoziationen und griffige Formulierungen eine Distanz in seine Darstellung einzieht, die man bei anderen Einführungen vergeblich sucht. Wer jedoch noch nie etwas von Luhmann gehört hat und mit nahezu allen wichtigen philosophischen wie kulturwissenschaftlichen Referenzautoren der letzten hundert Jahre nicht vertraut ist, dürfte allerdings wohl eher überfordert sein.
Norbert Bolz, in dessen nahezu jährlich erscheinenden, immer auch von Provokationslust angetriebenen, so schnittig wie schneidig daherkommenden zeitdiagnostischen Schriften gewohnte Denkweisen und Kategorien sonst allzu unbekümmert in der dekretierenden Rhetorik des „Post-“ als überkommen verabschiedet werden, wobei Zitaten- und Begriffspatchwork oft sorgfältiges und stringentes Argumentieren ersetzt, hat diesmal im Gegenstand seiner ersten Autorenmonografie eine Art Fokus gefunden, der seinen assoziativen Schreibstil zur Erhellung beitragen lässt. Nach seinen letzten, allzu zeitgeist-beflügelten Publikationen zu Reizthemen wie Familie, Gleichheit und Profit hat Bolz zu seiner alten Form zurückgefunden; einem „strange loop“ ist, um es theorietechnisch zu formulieren, ein „re-entry“ gefolgt.
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