Lust am Risiko

Die Realität ist die Reality: Thomas von Steinaeckers furioser Ausflug in die Welt der Versicherungswirtschaft

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir leben im Zeichen des Schwarzen Schwans. Vermeintlich unwahrscheinliche Katastrophen sind ständig zu befürchten oder sogar live zu verfolgen. Das verleiht der Figur des Versicherungsvermittlers ungeahnte zeitsymptomatische Qualitäten. Für Renate Meißner, die Icherzählerin des neuen Steinaecker-Romans, gilt: Keine Akquise ohne Angsterzeugung, keine Zukunft ohne Worst Case. Wo immer sie ist, ob im Restaurant oder Vergnügungspark, ihr professionell geschulter Möglichkeitssinn entwirft zur Kundenköderung umgehend lustvoll ausgemalte Risikoszenarien.

Dabei hat die 42-jährige Karrierefrau zu Katastrophen ein ambivalentes Verhältnis. Einerseits kennt sie das „echte“, da für ihre Firma teure Unglück sozusagen bei seinen Vornamen, „nach denen wir nie unsere Kinder nennen würden, weil sie uns auf ewig an unbezahlte Überstunden […] erinnerten“, als da wären: „Andrew, Mireille, Daria, Lothar“. Andererseits zieht sie sich abends gern eine DVD mit vergangenen „XXL-Katastrophen“ rein. Ob Tsunami oder Hurrikan, der Zuschauerin verkünden die globalen Desaster vor allem eines, eine plötzlich wieder offen scheinende Zukunft. 9/11 machte ihr gar den für sie enttäuschenden Milleniumswechsel wett: „Nicht nur mir, denke ich, kam […] jener strahlende Septembertag wie die nachträgliche Einlösung eines Versprechens auf etwas Großes, Erschütterndes vor.“

Nach einem Ausflug in die deutsche Kolonialgeschichte („Schutzgebiet“, 2009) kehrt Thomas von Steinaecker in seinem neuen Roman, immerhin dem vierten in fünf Jahren, zurück zu dem, was ihn auszeichnet: der medial versierten Gegenwartsdiagnostik. Wie immer mit diversen literarischen Anspielungen, von Lewis Caroll über Robert Musil bis zu W. G. Sebald, aber auch mit vielen, Barthes’sche Realitätseffekte zeitigenden Fotoabbildungen. Auch für seine Protagonistin aus der zynischen Welt der Versicherungswirtschaft gilt Steinaeckers Einsicht: „Die Realität ist die Reality“ – die Wirklichkeit, wie wir sie heute sehen, ist immer schon eine medial inszenierte. Erstaunlicherweise ist der 35-jährige Romancier mit diesem Postulat selbst unter seiner Autorengeneration eine Ausnahmeerscheinung. Dass das mediale Apriori auch und gerade für unseren Blick auf Geschichte gilt, bewies bereits sein Erstling „Wallner beginnt zu fliegen“ (2007). Dieser sich dekonstruktivistisch in eine Retro-Zukunft schraubende Familienroman gehörte zu den innovativsten Werken der Nullerjahre.

Wie kein zweiter deutschsprachiger Autor untersucht Steinaecker die durch Casting- oder Reality-Shows, Internet und Videogames bewirkten mentalen und sozialen Veränderungen – und ihre Konsequenzen für eine realistische Literatur, die ihren Anspruch, ihre Zeit zu durchdringen, nicht aufgeben will. Steinaeckers Figuren sind spätmoderne Widergänger der narzisstischen, von Identitätsverlust bedrohten Protagonisten der Wiener Moderne. Ständig fühlen sie sich im Fokus einer – und sei es eingebildeten – Kamera stehend und oszillieren zwischen lustvoller Selbstpräsentation und den Abgründen ihrer Paranoia, verlieren sich zwischen Fakten und Fiktionen, suchen in Zufällen und Koinzidenzen nach verborgenen Bedeutungen.

Wie Renate Meißner, die heimlich, seit sie von angeblichen „Incentive“-Besuchen von „Premium-Vermittlern“ in osteuropäischen Bordelle gehört hat, bei ihren männlichen Kollegen nach verräterischen bunten Armbändern Ausschau hält. Äußerlich ganz die toughe Businesswoman, die sich selbst Abend für Abend „Performance-Eigenevaluationen“ mailt, ist sie in Wahrheit eine Burnout-Kandidatin, plötzliche Zusammenbrüche inklusive. Hungergefühle bekämpft sie mit Seminar-Weisheiten, Träume kennt sie, da tablettenabhängig, nur noch aus Umfragen. Am 1. Oktober 2008, also zwei Wochen nach Lehman Brothers, tritt sie ihre leitende Stellung in der Münchner Filiale des fiktiven CAVERE-Konzerns an. Offiziell ein Aufstieg, in Wahrheit ein von Walter, ihrem Frankfurter Ex im CAVERE-Vorstand, besorgtes Abstellgleis für seine Geliebte, die sein Familienglück zunehmend gefährdete.

Früher hätte man von falschem Bewusstsein gesprochen, heute wohl eher von „Gefühlen in Zeiten des Kapitalismus“. Ihr Ex, so Renate noch immer voller Bewunderung, sei ganz und gar ein „Gegenwartsmensch“. „Nur Gegenwartsmenschen sind dafür geeignet, größere Unternehmen zu führen. Nicht Vergangenheitsmenschen, nicht Zukunftsmenschen. Auch ich bin ein Gegenwartsmensch.“ Richtig daran ist nur, dass ihr die Zukunft nur noch als Risiko-, die Vergangenheit als Störfaktor erscheint. Ständig bedrohen irritierende Erinnerungen ihre Effizienz: nicht nur an Walter und ihre kürzlich verstorbene Mutter. Auch an ihre Oma, die gestorben sein soll, als Renate noch ein Kind war – offenbar eine Familienlegende, wie ihr der mütterliche Nachlass verrät.

Als eine potenzielle neue „Premium-Kundin“ auftaucht, geraten die Dinge endgültig außer Kontrolle und wird dieser über weite Strecken grandios erzählte Wirtschaftsroman immer märchenhafter. Die aus München stammende, fast hundertjährige Prinzipalin eines russischen Vergnügungspark-Imperiums ist am selben Tag wie ihre Großmutter geboren. Ist Sofja Wasserkind in Wahrheit ihre Oma, will sie ihre Enkelin auf ihre Tauglichkeit als Erbin prüfen? In Wasserkinds Luna Park im russischen Samara begegnet die Versicherungsfrau, so verzweifelt sie sich auch an ihre professionelle Rolle klammert, endlich wieder ihrer Fantasie und ihren Träumen.

Und im Gespräch mit der Greisin, die sich als eine Sebald’sche Ausgewanderte entpuppt, den Abgründen deutscher Geschichte. Nur wer das Gestern kennt, hat auch ein Morgen, könnte die Botschaft des Romans lauten – und das, obwohl der Worst Case eintritt, Renates Abteilung aufgelöst und sie selbst entlassen wird. Doch sollte man sich nicht täuschen lassen: Die Samara-Renate Meißner verschmilzt im erinnernden Erzählen viel zu empathisch mit ihrem früheren CAVERE-Ich, als dass man für ihre Zukunft Gutes erwarten dürfte.

Titelbild

Thomas von Steinaecker: Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012.
400 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100704085

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