Von blauen Ratten, einem rosa Brief und Old Shatterhand in Barcelona

In „Kalligraphie der Träume“ bleibt sich der spanische Schriftsteller Juan Marsé selbst treu

Von Susanne HeimburgerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susanne Heimburger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es ist womöglich das erste Mal, dass dieser Junge, wenn auch nur ungenau und flüchtig, spürt, dass Erfundenes mehr Gewicht und mehr Glaubwürdigkeit haben kann als Reales, ein stärkeres Eigenleben hat und mehr Sinn und damit größere Chancen, dem Vergessen zu entgehen.“ – Zu diesem Schluss kommt der junge Ringo, als er auf der Straße einen Schwarm Neugieriger dabei beobachtet, wie sie sich um eine dickliche, am Boden liegende Frau scharen. Was war passiert?

Frau Mir, eine etwas in die Jahre gekommene und liebeshungrige Heilpraktikerin, hat sich in einer dramatischen Geste auf die Tramgleise vor ihrem Haus gelegt. Es sieht aus, als wolle sie Selbstmord begehen. Nur dass auf diesen Gleisen schon seit Jahren keine Tram mehr gefahren ist, da die Straßenbahn unlängst umgeleitet worden war. Frau Mir indes bleibt so hartnäckig auf den Gleisen liegen, ignoriert so vehement die Aufforderung der Menge, endlich aufzustehen, dass am Ende doch einige immer wieder verunsichert in Richtung Straßenecke schauen, aus Furcht, es könne vielleicht doch noch plötzlich eine Bahn um die Ecke biegen. Dabei führen die Gleise doch direkt in den Asphalt hinein.

Was ist wirklich, was erfunden, eingebildet oder vorgekaukelt? Genau um diese Frage kreist Juan Marsés Roman „Kalligraphie der Träume“. Die Handlung spielt im Barcelona der 1940er-Jahre, im Mittelpunkt steht der 16–jährige Ringo. Eigentlich wollte er Pianist werden, doch ein Arbeitsunfall kostet ihn einen seiner Finger. So muss er seine Lehre als Goldschmied aufgeben und sich mit Aushilfshilfsjobs durchschlagen. Seinen Traum aber, einmal der erste berühmte Pianist der Welt mit nur neun Fingern zu werden, möchte er nicht aufgeben. Er ist eben etwas anders als die anderen Kinder in seinem Alter, wirkt nachdenklicher, stiller und in sich gekehrter. Nicht einmal zum Tanzen geht er, obwohl er ein Auge auf die zwei Jahre ältere Violeta, die Tochter Frau Mirs, geworfen hat. Da dämmert es dem Leser schon: Das wird einmal ein Künstler. Und, so viel darf man schon verraten, das wird er tatsächlich, wenngleich nicht Pianist, so doch Schriftsteller.

Fast nebenbei erzählt das Buch aber auch vom harten Überlebenskampf der Familie und von den politischen Verhältnissen im Spanien der 1940er–Jahre. Das Zeitgeschehen steht zwar keineswegs im Mittelpunkt des Romans, wird zu Beginn ohnehin nur angedeutet – etwa dann, wenn Ringos Vater, eine Art Kammerjäger, immer wieder davon erzählt, er müsse die „blauen Ratten“ bekämpfen, die sich überall in der Stadt tummelten (gemeint sind damit natürlich die Falangisten mit ihrer blauen Kleidung). Gerade aus dieser harten Wirklichkeit aber träumt sich Ringo in die Welt von Winnetou und Old Shatterhand, er liest viel, er geht ins Kino. Und immer wieder merkt er, dass auch in der Wirklichkeit vieles nicht so ist, wie es scheint.

Als Leser folgt man hier einer Handlung, bei der man lange Zeit nicht weiß, wohin sie einen führt. Sie bewegt sich vorwärts, zurück, und wieder weiter vor, doch man folgt Marsé bereitwillig. Der Roman zieht den Leser in seinen Bann und fasziniert vor allem durch seine Sprache. Marsé versteht es dabei, auch Gewöhnliches poetisch und mit Witz zu beschreiben. Es sind vor allem die gekonnten und originellen Formulierungen, die die Handlung fast zur Nebensache machen. Denn diese scheint, wie gesagt, zunächst etwas ziellos. Motive werden aufgemacht, verschwinden dann erst einmal, bis sie doch plötzlich wieder aufgegriffen werden und sich ins Ganze einfügen. Und erst gegen Ende bewegt sich die Handlung allmählich immer zielstrebiger auf eine Auflösung zu, die durchaus überrascht. Schließlich ist es der rosa Brief des verflossenen Liebhabers von Frau Mir (dessentwegen sie sich auf die Gleise gelegt hatte), der das ganze Romangefüge zusammenhält. Und der zeigt, dass bisweilen auch die Wirklichkeit origineller sein kann als Erfundenes.

Wer Juan Marsé kennt, wird in diesem Roman vieles von dem wiederfinden, was auch bisher die meisten seiner Werke ausmachte: Die Handlung spielt im Barcelona der 1940er-Jahre, und es geht um die Vermischung von Wirklichkeit und Fiktion. Was den Roman besonders macht, sind die hervorstechenden autobiografischen Bezüge: Auch Marsé wuchs wie Ringo bei seinen Adoptiveltern (seine Mutter war bereits kurz nach der Geburt gestorben) in einem eher ärmeren Viertel Barcelonas auf und arbeitete eine Zeitlang bei einem Juwelier. Und mit Ringo teilt er zum Beispiel auch seine Vorliebe für das Kino.

In Deutschland wurde der spanische Schriftsteller Juan Marsé vor allem bekannt durch seinen Roman „Letzte Tage mit Teresa“. 2008 erhielt er den bedeutenden Cervantes-Preis für sein Lebenswerk. Mit „Kalligraphie der Träume“ bleibt er in Stil und Anspruch seinem bisherigen Werk treu.

Titelbild

Juan Marsé: Kalligraphie der Träume. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011.
349 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783803132406

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