Die Bibliothek als „Größenselbst“
Über Hermann Kurzkes Selbstporträt als Leser
Von Albert Coers
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur“: Dieser Titel eines Essays steht stellvertretend als Gesamttitel des Bandes von Hermann Kurzke. Handelt es sich bei diesem Band etwa um einen rein faktenorientierten literaturgeschichtliche Übersicht, in Art von Handbuch- und Lexikonartikeln? Derartige Erwartungen werden unterlaufen: Erschienen ist ein Selbstporträt des Autors als Leser, das gleichzeitig eine sehr persönliche Literaturgeschichte ergibt.
Der Superlativ wirft auch sonst Fragen auf: Kürzest – im Vergleich wozu? Sicher ließen sich noch kürzere Abrisse der deutschen Literaturgeschichte finden als die Darstellung auf fünf Seiten. Um eine Guinness–Buch–verdächtige Knappheit kann es also kaum gehen. Der Titel erinnert an ein sehr gelungenes Projekt, „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“ von Heinz Schlaffer (2002). Schlaffer hatte seinen Titel methodisch und sachlich begründet: mit der Konzentration auf besonders folgenreiche Momente der Literaturgeschichte, was eine Entlastung des Lesers bedeutet, der in der gesparten Zeit sich der Lektüre der Texte selbst widmen kann, dann aber auch in der Bemerkung, dass die Geschichte der deutschen Literatur im Vergleich zu anderen Nationalliteraturen eine zeitlich begrenzte, kurze ist.
Kurzke reflektiert die gesteigerte Kürze leider nicht explizit, sie scheint zunächst allein dem Publikationsort der Texte in Zeitungen und Zeitschriften geschuldet. Im Klappentext ist sie begründet als Alternative oder Vorentwurf zu einer größer angelegten Literaturgeschichte, als „kleine, persönliche“ Form, die sich niederschlägt in der abgedruckten Reihe „Kurzkes Kanon“, ursprünglich Beiträge für die Literaturbeilage der „Welt“, und als abermalige Verknappung, im anschließenden titelgebenden Essay. Die Kürze wird im Dienst des persönlich-subjektiven Zugangs gesehen, im Verein mit der Form ‚Essay‘, fern von den Zwängen der „wissenschaftlichen“ Objektivität einer breiteren Darstellung – und sicher ist auch mit dem Autornamen ‚Kurzke‘ gespielt.
Die über 40 im Band versammelten, aus unterschiedlichen Anlässen entstandenen Texte sollen also in der Zusammenschau ein mosaikähnliches Bild ihres Autors geben und – quasi als Nebenprodukt – einen Querschnitt durch die Literaturgeschichte. Kein Wunder, dass sie mit einem Essay über das Lektüreerlebnis von „Doktor Faustus“ beginnen, ist Kurzke doch vor allem als Thomas-Mann-Forscher bekannt. Wie dort liegt in den Essays der Ansatz zu Grunde, Literatur in eng biografischem Zusammenhang zu sehen. Sympathisch ist der Mut zu einem prononcierten Standpunkt, die Offenlegung der eigenen Wurzeln, die Betonung eines persönlichen Zugangs zu Literatur, was auch die Beschäftigung mit vielleicht weniger bekannten Schriftstellern und Formen wie Liedtexten einschließt. Häufig anregend ist die Rekonstruktion der Bibliothek eines Autors und die Immersion in dessen Gedankenwelt, auch vor der Folie eigener, vielleicht ähnlicher Lese- und Lebenserfahrung.
Doch genau hier beginnen auch Zweifel: Im Ganzen sind die mitgeteilten Details aus dem Leben Kurzkes nicht unbedingt alle von gleichem Interesse für den Leser der Essays, wirkt die Betonung des biografischen Hintergrunds des Autors wie etwa seiner katholischen Sozialisation und das letztlich doch in Affirmation endende Ringen mit ihr etwas wiederholend, steht die auktoriale Geste doch stark im Vordergrund. Die Essays sollen laut Klappentext „Bildungsgeschichte ihres Autors, aber zugleich […] ein Ausschnitt der Bildungsgeschichte der deutschen Nation“ sein und sind so mit keinem geringen allgemeinen Anspruch aufgeladen.
Kurzkes Essaysammlung wirft somit interessante Fragen auf: Wie ist das Verhältnis von individueller und kanonischer/kanonbildender Leseerfahrung, von literarischem Werk und biografischer Deutung, wie das von Autor und Leser insgesamt, gerade wenn es sich um einen „professionellen“ Leser handelt, wie emphatisch, wie individuell-subjektiv soll Literaturgeschichte- und -wissenschaft sein?
Man kann Kurzke jedenfalls nicht vorwerfen, dass er trocken-unpersönliche Wissenshappen verabreichen würde, wenn er beispielsweise im Essay „Die Bibliothek als Lebensspiegel und Seelenraum“ über seine Bücher schreibt: „Sie sind also Instrumente meines Narzißmus, jawohl, das bestreite ich nicht. Meine Bibliothek ist mein Größenselbst, mein nach außen gestülptes Inneres, ein Abbild meines Ichs, […]“
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