Entscheidungen im Supermarkt

David Foster Wallace denkt in „Das hier ist Wasser“ wenig originell über das erwachsene Denken nach

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wie gelingt einem ein angenehmes, gut situiertes und respektables Erwachsenendasein, ohne dass man tot, gedankenlos und tagein, tagaus ein Sklave des eigenen Kopfes und der angeborenen Standardeinstellung wird, die vorgibt, dass man vor allem total auf sich allein gestellt ist?“

Diese Fragestellung steht im Zentrum der kurzen Rede, die der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace im Jahre 2005 vor Absolventen des Kenyon College in Gambier, Ohio, hielt. Wallace, der sich 2008 im Alter von 46 Jahren das Leben nahm, führt mit zwei Parabeln in die Thematik des Denkens ein, die gerade auch im Original-Wortlaut ihr amüsantes Potential entfalten. Lobenswert ist, dass Kiepenheuer & Witsch Wallace’ Rede als zweisprachige Ausgabe herausbringt. Die Übersetzung besorgte einmal mehr Ulrich Blumenbach, der im Jahre 2009 für seine Mammutübertragung von Wallace’ „Unendlicher Spaß“ mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde.

Wallace extrahiert aus seinen einleitenden Parabeln zwei entscheidende Hindernisse des freien und erwachsenen Denkens: die Blindheit für das Offensichtliche und die Arroganz, die in oft rigiden Überzeugungen zum Ausdruck kommt. Sein Anliegen ist es, die ehemaligen Studenten auf die Essenz ihrer jahrelangen geisteswissenschaftlichen Beschäftigung aufmerksam zu machen: ein Quentchen Arroganz und Egoismus abzulegen und mit kritischem Bewusstsein gegen einen unbewussten Automatismus ‚anzudenken‘.

Akademische Bildung, so Wallace, könne als Überwindung der Ichbezogenheit, die als „Standardeinstellung […] mit der Geburt in unseren psychischen Festplatten verdrahtet wird“, hilfreich herangezogen werden. Doch besteht darin zugleich die Gefahr der „Überinterpretation“ und „Abstraktionen“, das heißt: des Zu-viel-Denkens. Daher mahnt Wallace, das Denken zu kontrollieren, um Entscheidungen treffen zu können, die Wichtiges von Unwichtigem trennen. Dies gehöre zum Erwachsensein dazu.

Ebenso bestimme der „Alltagstrott“ das Leben nach dem Studium, sprich „Langeweile, Routine und banale Frustration“. Wallace schildert ausführlich einen möglichen Feierabendverlauf: der Weg nach Hause nach einem arbeitsreichen Tag, das Einkaufen im Supermarkt mitsamt der kleinen Stressauslöser von Neonlicht über Hintergrundmusik bis hin zu langen Schlangen an den Kassen. Er versucht, diesen „trostlosen, nervenden und scheinbar sinnlosen Routinetätigkeiten“ durch aufmerksames, alternatives und bewusstes Denken eine neue Perspektive zu verleihen, was allerdings ein hohes Maß an Selbstdisziplin verlangt.

Wallace’ „Anstiftung zum Denken“ ist adressatenbezogen: Den voller Tatendrang steckenden Hochschulabsolventen hält er ungeschönt die Realität vor. Sie sind es, die Nutzen aus den verständlich aufbereiteten, in lockerer Sprache verfassten Weisheiten ziehen können. Diejenigen, die das Denken bereits gelernt haben, die also wissen, was wahre Freiheit im Wallace‘schen Sinne ist (seine Stichworte sind: „Aufmerksamkeit“, „Offenheit“, „Disziplin“, „Mühe“ und „Empathie“), werden hier nichts Neues entdecken, was nicht schon fernöstliches Denken (die Wichtigkeit des ‚bewussten‘ Lebens im Buddhismus), Nietzsche („nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen.“) oder Gottlob Frege mit seiner Unterscheidung von Sinn und Bedeutung vorweggenommen und somit vorweggedacht haben.

Titelbild

David Foster Wallace: Das hier ist Wasser. Anstiftung zum Denken.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012.
62 Seiten, 4,99 EUR.
ISBN-13: 9783462044188

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