Das schnelle Ende einer langen Geschichte

Mit „Stichworte“ legt Ulrike Landfester eine umfassende Diskursgeschichte der geschriebenen Tätowierung vor.

Von Tobias SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die in St. Gallen lehrende Literaturwissenschaftlerin Ulrike Landfester geht mit ihrer großen Studie „Stichworte. Tätowierung und europäische Schriftkultur“ der „Diskursgeschichte“ der Tätowierung als geschriebenes Phänomen in literarischen Texten nach. Dabei nimmt sie nicht nur die tatsächlichen literarischen Orte von Tätowierungen in den Blick, sondern liefert zudem dezidierte anthropologische und soziokulturelle Hintergrundinformationen, die das Thema in einem großen kulturwissenschaftlichen Rahmen verankern. Was die Besonderheit der Perspektive ausmacht, ist die Fokussierung auf die Schriftreflexion im europäischen Kulturraum, die immer wieder mit Tätowierungspraktiken verzahnt wird und zur Legitimation der eigenen (Sprach)macht Absetzungs- und Vereinnahmungsprozeduren vornimmt, die als Bodensatz für das Gründungsnarrativ eines europäischen Schriftbegriffs gelten können, mit dem sich die westliche Denktradition auch als Primat jeglicher intellektuellen Reflexion inszeniert.

Landfester präsentiert ihre Diskursgeschichte in „einer Serie von vierzehn Einzelnarrativen“, deren Verbindungen untereinander aber nicht von der Autorin selbst markiert werden, sondern es dem Leser überlassen ist, „von den gelieferten Stichworten“ aus, selbst diese Verbindungen vorzunehmen. Zumal in einem Korpus, der Texte vereint, die einen Zeitraum von der Antike bis ins 20. Jahrhundert abdecken und auch einem mit der Materie vertrauten Leser unbekannte Texte vorstellt. Jedes dieser Einzelnarrative beziehungsweise jede dieser komplexen und größtenteils überzeugenden Textanalysen nimmt sich einen speziellen Text oder Komplex vor, in dem sich das immer auf die poetologische Verfasstheit hin gelesene Verhältnis von Tätowierung und Schrift in einer spezifischen Form zeigt. Dennoch lässt sich eine konzeptionelle Zweiteilung des Buches feststellen, dienen doch die ersten sieben Kapitel zur Etablierung des theoretischen beziehungsweise kulturhistorischen Unterbaus, auf den sich alle anderen Kapitel stützen. Nicht von ungefähr klafft eine chronologische Lücke von 200 Jahren zwischen beiden Teilen und markiert somit prominent einen epistemologischen Bruch, der seltsamerweise den Barock, bewusst oder unbewusst, aus der Diskursgeschichte der Tätowierung ausschließt. Behandelt etwa das „Berührungspunkte“ betitelte „Renaissance“-Kapitel das Verhältnis von „Eigenem und Fremden“ anhand einiger Illustrationen von Tätowierungen bei amerikanischen Indianern im Kontrast zu den auf den britischen Inseln beheimateten Volk der tätowierten Pikten, um so den Bogen hin zur Tätowierung auch als europäische Zeichnungspraktik zu schlagen, so setzt der Diskurs der geschriebenen Tätowierung erst wieder bei Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahren ein. Dort scheint sich die Tätowierung bereits im europäischen Denken so weit konsolidiert zu haben, dass sie erzähltechnisch nicht mehr in das eigenen Denksystem integriert werden muss, sondern als narrative Leerstelle funktionalisierbar wird.

Das von Landfester fokussierte poetologische Verhältnis zwischen Tätowierung und Schriftkultur drängt sich aber nicht auf, sondern „wird von drei Faktoren bestimmt, die die Tätowierung von anderen Körperpraxen abhebt“: Erstens ist „sie ihrem Wesen nach ostentativ“, das heißt auffällig, zweitens „hinterlässt [sie] auf der Haut keine materiell spürbaren Deformationen, sondern allein den visuellen Effekt“, und drittens „ist die Farbtätowierung nicht löschbar“. Um nun aber in ein poetologisches Verhältnis mit Schrift zu treten, reichen diese Faktoren allein nicht aus, es muss eine weitere Eigenschaft geben, die die „poetologische Bildpotenz“ der Tätowierung legitimiert. Landfester beschreibt diese Bildpotenz als „Unschärferelation“ und referiert darauf, dass sich die Tätowierung, gerade weil sie weder Bild noch Schrift ausschließlich sein kann, „nicht auf einen bildwissenschaftlichen empirischen Bildbegriff festlegen [lässt], obwohl sie […] in ihrer syntagmatischen, historisch konkretisierten Erscheinung immer auch in ornamentaler, ikonischer oder in Mischformen aus ikonischen, ornamentalen und schriftlichen Elementen bezeugt ist“. Aus dieser diskontinuierlichen Faktorenkonstellation speist sich das poetologische Verhältnis, das es bis ins 20. Jahrhundert hinein erlaubt, durch die Tätowierung auch immer die eigene Schriftkultur zu reflektieren.

Im Laufe der Lektüre der „Stichworte“ zeigen sich bestimmte Ablösungsprozesse, die das eben beschriebene Verhältnis modifizieren, verkomplizieren und so die Wandelbarkeit dieser poetologischen Wahlverwandtschaft zeigen. Bereits im ersten Kapitel zerfällt das Bild eines eindeutig zu bestimmenden Verhältnisses, wenn am Beispiel des Alten Testaments und dessen „übergreifende[r] religiöse[r] Semiologik“ Tätowierung und Schrift in eine wechselvolle und auch gegenläufige Konstellation treten, in der sich religiöse, soziokulturelle und historische Aspekte mischen. In der babylonischen Praxis der Sklavensiglierung sieht Landfester das Grundnarrativ für die Entstehung des im Alten Testament sich manifestierenden Paradigmas der „göttlichen Deixis“, nach dem alle Körperzeichen Zeichen Gottes sind. Vor diesem Hintergrund etwa lässt sich das Kainszeichen nicht als Strafzeichen, sondern als „Besitzstandsmarkierung und Schutzzeichen“ lesen, was fortan die Deutungsmatrix für die göttliche Deixis liefert. Diese Perspektive aber siedelt historisch fragil an der Schwelle von mündlicher zu schriftlicher Überlieferungspraktik, und die Indienstnahme der Tätowierung für die Reflexion auf Schrift muss sich mit zwei divergierenden Deutungslinien auseinandersetzen. Zum einen ist das die „göttlichen Deixis“, zum anderen eine die Körperzeichen säkularisierende Deutung, die sich auf die Schrift als Aufbewahrungsort von Erinnerungen und auch als rein pragmatisches Notationsinstrument stützt. Letztendlich trägt die „Säkularisierung des Mediums Schrift“ den Sieg davon, was vor allem mit dem sich ausbreitenden Gebrauch der alphabetarischen Schrift zusammenfällt und so „eine wachsende epistemische Differenz zwischen Körper und Schrift“ bewirkt. Doch trotz dieser Spannungen wird im Kontext des Alten Testaments gerade vor der historischen Folie der Sklavensiglierung und vor allem wegen deren „Doppelwertigkeit“ als Besitz- und Schutzzeichen diese Zeichnungspraxis dafür instrumentalisiert, die göttliche Deixis als Grundprinzip aller Zeichnungspraktiken zu entwerfen.

Die von Landfester in ihren Analysen vielmehr en passant sich vermittelnden Ablösungstendenzen innerhalb der Diskursgeschichte nehmen ihren Ausgang zunächst daher, dass es vom Alten Testament bis zur Renaissance üblich war, die Tätowierung quasi-hermeneutisch in das eigene Denksystem zu integrieren, das heißt, sie ihren ursprünglichen Kontexten zu entreißen. Diese Grundtendenz bestimmt, grob vereinfacht, den ersten konzeptionellen Teil der „Stichworte“. Der zweite Teil schließlich, Texte der vergangenen 200 Jahre behandelnd und somit auch den zeitlichen Rahmen straffend, stellt disparate Konzeptionen des poetologischen Verhältnisses von Schrift und Tätowierung vor. Hier verlagern sich zusehends die einst kolonialen Machtverhältnisse hin zu sprachlichen Zurichtungspraktiken, was Landfester etwa in Heimito von Doderers kurzer Erzählung „Eine Tätowierte“ oder an Franz Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ vorführt. Schließlich öffnet sich das poetologische Feld zwischen Tätowierung und Schrift analytisch unter anderem auch für Begriffen wie Text, Textur, Selbstreferenz und Literarizität.

Das Ende dieser poetologischen Verknüpfung sieht Ulrike Landfester allerdings bereits als vollzogen an, wenn sie im Nachwort darauf insistiert, „dass das Medium Schrift im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine einst prioritäre Bedeutung für die Strategien literarischer Selbstreferenzialität weitgehend verloren hat“ und die „geschriebene Tätowierung“ einen „Bedeutungswandel“ durchlebt hätte, und dass sie nun vorwiegend anhand „von anderen Medien als dem der Schrift semantisier[t]“ werde. Die in künstlerische und mediale Prozesse eingebundene Tätowierung liefert nun nicht mehr ein passendes Medium zur Schriftreflexion und -kritik, sondern ordnet sich in einen medienübergreifenden Diskurs „jener intermedialen Simulakrenkritik“ ein. Zwar spielt die Schrift selbst immer noch als „Leitmedium“ eine dominante Rolle in kulturellen und künstlerischen Konstitutionszusammenhängen, doch spielt die Tätowierung dafür keine Rolle mehr, weil sich auch das Konzept der Oberfläche, einst physisch beschreibbar, gewandelt hat, die nun auch virtuell beschreibbar geworden ist.

Ulrike Landfester schafft es, das vertrackte Spiel zwischen Tätowierung und Schriftreflexion in größtenteils überzeugenden Lektüren anschaulich und nachvollziehbar zu präsentieren. Mitunter gleiten ihre Argumentationsketten zwar in schwer verständliche, elaboriert verschachtelte Satzkonstruktionen ab. Meist gelingt ihr aber eine angenehme Balance zwischen Verständlichkeit und intellektuellem Gehalt, die man in literaturwissenschaftlichen Büchern oft vergeblich sucht.

Titelbild

Ulrike Landfester: Stichworte. Tätowierung und europäische Schriftkultur.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011.
492 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783882215618

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