Zwischen Gegensätzen und Idealvorstellungen

Hermann Hesses Erzählung „Narziß und Goldmund“

Von Jutta LadwigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jutta Ladwig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Würde Hermann Hesse seine Erzählung „Narziß und Goldmund“ heute einem Verlag vorlegen, ist es durchaus vorstellbar, dass das Manuskript als Historischer Roman eingestuft werden würde. Vieles spricht dafür, angefangen beim Setting – ein deutsches Kloster im Mittelalter – über die Handlung und die Gestaltung der Charaktere. Mittelalterliches Leben im Kloster und der harte Alltag dieser Zeit, sowie die Abenteuer Goldmunds auf seiner Wanderschaft sind die Themen der Erzählung und werden so aufgearbeitet, wie Leser es von einem guten Historischen Roman her kennen. „Narziß und Goldmund“ allerdings auf diese Punkte zu beschränken, wäre vermessen und würde der Erzählung nicht gerecht werden. Denn erst zwischen den Zeilen entfaltet sich die volle Kraft von „Narziß und Goldmund“, die Darstellung gegensätzlicher Lebensentwürfe zieht sich durch die gesamte Erzählung.

Narziß und Goldmund: Gegensätze in Person

Narziß wächst im Kloster Mariabronn auf, sein ausgeprägtes Verständnis für Wissenschaft und sein ausgezeichnetes Griechisch machen ihn zum Liebling der Gelehrten. Vom Verstand geleitet zeigt er ein rationales wie kalkulierbares Verhalten gegenüber seinen Vorgesetzten und seinen Bewunderern. Letztere hat er viele, echte Freunde allerdings nicht, da er sich oft hochmütig gibt und seine geistige Überlegenheit zur Schau trägt. Narziß entscheidet sich für ein asketisches Leben im Kloster, wird später sogar der Abt des Klosters.

Ganz anders ist die Figur des Goldmund. Von seinem reichen Vater zum Studium ins Kloster gebracht, verkörpert er das Emotionale. Er ist ein Träumer, der sich danach sehnt, Narziß nachzueifern, zu dem er sich besonders hingezogen fühlt. Dieser Wunsch scheitert jedoch an seiner Emotionalität, wie Narziß erkennt. Er überzeugt ihn, dass dies nicht die richtige Wahl für Goldmund ist. Goldmund begibt sich daraufhin auf Wanderschaft und zieht die Kunst dem Klosterleben vor. Es folgt ein intensives Leben, welches Liebe und Tod, Pest und Krieg sowie Kunst und Einsamkeit umfasst. Ganz so, wie Narziß es vorhergesehen hat.

Narziß, der Psychoanalytiker

Hermann Hesse schreibt Narziß eine besondere Rolle in Goldmunds Leben zu, nämlich die des Psychoanalytikers. Goldmund wuchs bei seinem Vater auf, die Mutter verließ die Familie, um, wie es Goldmunds Vater ausdrückt, ein sündhaftes Leben zu führen. Narziß erkennt, dass sein Freund stark von den Moralvorstellungen seines Vaters geprägt ist und somit seine Mutter und die Liebe, die sie ihrem Sohn entgegenbrachte, vergessen hat. In geschickten Gesprächen macht Narziß Goldmund die Problematik klar: Nur weil sich Goldmunds Mutter für den Weg der Kunst entschieden hat, muss dies allein kein lasterhaftes Leben sein. Das Lasterhafte entsteht erst durch das Urteil des Vaters. Goldmund erkennt schockiert, dass er selbst lieber den Weg der Kunst gehen möchte und das Leben, welches sein Vater für ihn ausgesucht hat, ihm keine Erfüllung bringen wird. Um vollends zu sich zu finden, begibt er sich auf Wanderschaft.

Hier liegt Carl Gustav Jungs Theorie der neurotischen Verdrängung zu Grunde, mit der Hermann Hesse selbst vertraut war. Er nahm selbst eine Psychotherapie bei C.G. Jung in Anspruch. Aber auch Jungs Archetypen von Animus und Anima kommen in „Narziß und Goldmund“ zum Tragen, insbesondere der Mutterarchetyp, welcher mit Anima einhergeht und sich in Goldmunds „Hin- und Rückbesinnung“ auf die Mutter äußert.

Das Idealbild der Mutter

Da Goldmund aber das realistische Leitbild seiner Mutter fehlt, entsteht durch die Gespräche mit Narziß ein Idealbild, das Goldmunds lebenslange Suche prägt. Er jagt diesem Traum hinterher, wird aber in seinen flüchtigen Frauenbekanntschaften nicht fündig. Keine Frau genügt seinen Vorstellungen, nur in einer geschnitzten Mutter Gottes sieht er alle seine Illusionen vereint. Goldmund versucht fortan selbst, seine Idealvorstellungen in der Kunst zu verwirklichen.

In der Forschung sind bereits viele biografische Bezüge zwischen diesem Werk und Hesse selbst hergestellt worden. „Narziß und Goldmund“ wird oft als Überwindung von Hermann Hesses „Maulbronn-Traumas“ betrachtet, die Beschreibungen des Klosters Mariabronn ähneln dem des Klosters Maulbronn, in dem der Autor 1891/92 seine traumatischen Erfahrungen gemacht hat, die er in seinem Roman „Unterm Rad“ oder auch dem Gedicht „Maulbronner Kreuzgang“ verarbeitet hat. Ob der Leser „Narziß und Goldmund“ auf diese Punkte hin lesen möchte, bleibt ihm überlassen.

Die Erzählung weiß auch so in ihren Bann zu schlagen, indem Hermann Hesse zwei verschiedene Lebensentwürfe gegenüber stellt. Narziß und Goldmund gehen den Weg, von dem sie sich Erfüllung versprechen. Mit seiner klaren Sprache verknüpft Hermann Hesse C.G. Jungs Theorien der Archetypen mit einem mittelalterlichen Setting und erschafft so eine Erzählung voller Kraft und Faszination. Denn auch wenn Narziß und Goldmund voller Gegensätze und gegensätzlicher Lebensvorstellungen sind, sind sie doch eins: Das Leben in allen Facetten.

Titelbild

Hermann Hesse: Narziß und Goldmund. Erzählung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
466 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783518463567

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