Ein Ausflug in eine Parallelwelt
Sten Nadolny unterhält seine Leser mit „Weitlings Sommerfrische“
Von Georg Patzer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs ist ein halbwegs erfülltes Richterleben, auf das Wilhelm Weitling zurückblicken kann. Er war kein Star, kein ganz Großer unter den Juristen, aber immer solide und nachdenklich. Jetzt ist er pensioniert, lebt im Sommer wieder am Chiemsee, wo er aufgewachsen ist, in einem Ferienhaus, mit seiner geliebten Frau Astrid. Und wie früher, als Jugendlicher, hat er auch wieder ein kleines Boot. Und kriegt, wie früher, nicht immer so genau mit, wenn das Wetter umschlägt. So dass er, wie früher, in einen Sturm gerät und kentert.
Und dann passiert etwas Erstaunliches: Weitling ist plötzlich im Jahr 1958 gelandet und im Körper seines damaligen, 16–jährigen Ichs gefangen. Erlebt seine eigene Geschichte wieder und erfährt auch, dass das nichts Ungewöhnliches ist. Vielen geht das so, sein Großvater, der Maler Fedor von Traumleben, mit dem er als Geist sogar reden kann, nennt das schlichtweg eine „Sommerfrische“: einen kleinen Ausflug in andere Zeiten. „Was aber soll das, was mir hier widerfährt? Soll ich etwas lernen?“ fragt sich der verzweifelte Richter. Er lernt etwas. Geduld zunächst, denn es dauert viele Monate, bis er diesen Körper wieder verlassen darf. Und dann auch, dass seine Erinnerungen ihm doch wohl immer wieder mal einen Streich gespielt haben. Denn seine Mutter, eine geistreiche Frau, erscheint ihm jetzt zupackender, der Vater dafür schwächer. Manches, an das er sich erinnert, passiert gar nicht oder völlig anders.
Sten Nadolny führt hier eine Versuchsanordnung aus, die man schon aus anderen Romanen kennt, Max Fischs „Biografie. Ein Spiel“ ist wohl das bekannteste. Ein Gedankenspiel: Was bestimmt eigentlich unser Leben? Welche Winzigkeiten haben welche Auswirkungen? Wie die Verletzung an der Hand des jungen Wilhelm Weitling: In der ersten Fassung seines Lebens hatte er sie, in der zweiten nicht: Ändert sich dann alles andere auch? Ein bisschen, oder vollständig? Wird das Leben von Kleinigkeiten bestimmt, und der freie Wille ist nur eine Zutat unter vielen?
Und dann passiert ein zweites Wunder: Weitling hat einen weiteren Unfall und wird wieder zum alten Mann. Aber da ist er nicht mehr Richter, sondern Schriftsteller, ist, zu seiner persönlichen Erleichterung, mit Astrid verheiratet, hat aber jetzt plötzlich eine Tochter und eine Enkelin. Und kann sich an diese Vergangenheit nicht erinnern, muss auch sie sich wieder erarbeiten und zum Teil erzählen lassen.
Die zweite Ebene dieser Geschichte ist Nadolnys eigenes Leben, das er, hintersinnig, mit erzählt: Viele Details, die schreibenden Eltern, die erfolgreichere Mutter, der malende Großvater, das ihn selbst berühmt gemachte eine Buch, sind Fakten aus Nadolnys wirklichem Leben. Das ist alles sehr unterhaltsam und macht auch nachdenklich, aber leider ist die ganze Geschichte ein klein wenig zu behäbig erzählt, ein bisschen zu langatmig kommt manchmal dieser Ausbruch aus der linearen Zeit in eine Welt von Paralleluniversen daher, dieser Fall aus der Sicherheit in eine brüchig gewordene Zeit und Welt. Gespickt mit Selbstironie und durchsetzt mit einer gehörigen Portion Melancholie, die den Erzähler auch an der Wirkung seiner Story auch zweifeln lässt: Denn aus Romanen nimmt man „sicherlich keine Lehre“ mit, „nicht einmal eine Warnung. Vielleicht mehr Ahnungsvermögen für Abgründe.“
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