Einladung zum Gespräch

Die Tübinger Ausgabe der Büchner-Preis-Rede Paul Celans

Von Kim LandgrafRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kim Landgraf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Liste der Büchner-Preisträger seit Gottfried Benn (1951) ist lang und beachtlich. Die Namen der alljährlich in Darmstadt mit dem wichtigsten deutschen Literaturpreis geehrten Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind zugleich die bekanntesten Stimmen deutschsprachiger Literatur seit 1945. Nicht minder beachtlich sind die Dankesreden, zu denen sich diese Autoren seit den "Problemen der Lyrik" immer wieder herausgefordert sahen und die - stets durch Benns Vorbild geleitet - zu grundlegenden poetologischen Auseinandersetzungen mit dem eigenen Werk und mit dem Georg Büchners führten. Nicht umsonst sind diese Reden gesammelt und überall greifbar, werden als wichtige Zeugnisse von der Literaturwissenschaft hoch gehandelt und als Teil des Werkes meist in die Beschäftigung mit dem übrigen Werk einbezogen.

Die Ausnahme: die außergewöhnlich komplexe Büchner-Preis-Rede Paul Celans, eines Autors, der sich sonst nur sehr selten und mit größter Verhaltenheit zu seinen Texten geäußert hat. Kein Interpret konnte an dieser Rede - mit dem Titel "Der Meridian" - vorbei, und doch gab es wohl keinen, der nicht wie Lucile die Erfahrung gemacht hätte, hier jemanden "sprechen zu sehen", zu hören, daß etwas gesagt wird, und dann nicht zu wissen, "wovon die Rede war". Fast 40 Jahre nachdem diese Rede am 22. Oktober 1960 in Darmstadt gehalten wurde, liegt nun eine Ausgabe vor, der es gelingt, einiges Licht in die Dunkelheit ihrer Konzentrationen und Sätze zu tragen.

Als vor drei Jahren die ersten zwei Bände der Tübinger Celan-Ausgabe erschienen sind und damit erstmals Entwürfe und Vorstufen der Gedichte aus "Sprachgitter" (1959) und "Niemandsrose" (1963) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, war zunächst die Verwirrung recht groß. Denn im selben Verlag erschien plötzlich, parallel zur großen Bonner Historisch-kritischen Ausgabe der Werke Paul Celans, von der bis dahin drei Bände publiziert waren, eine zweite, diesmal "kritisch edierte Studienausgabe", die das alte Projekt zu ersetzen schien und dabei weit weniger kritische Ansprüche vertrat.

Die Befürchtung, die Bonner Ausgabe sei damit gescheitert und würde durch eine womöglich schlechtere fortgeführt, hat sich als unbegründet erwiesen. Rolf Bücher gab 1997 mit "Lichtzwang" den vierten Band der historisch-kritischen Celan-Edition heraus, und sehr bald wurde klar, wo die Vorteile der Tübinger Ausgabe liegen, die von vornherein nicht als Konkurrenzunternehmen, sondern als sinnvolle Ergänzung gedacht war. Die Vorgabe, hier aus der Fülle des Materials eine Auswahl zu treffen und nur "die wesentlichen Stadien der Textgenese" zu dokumentieren, ergab einerseits die Möglichkeit, schneller zu arbeiten und der Forschung so wesentlich früher Zugang zu wichtigen Textvarianten zu verschaffen, andererseits bot sich die Gelegentheit zu einer veränderten Darstellungsweise, die dem Leser den Umgang mit den verschiedenen Textzeugen um vieles erleichtert. Das Ergebnis waren Übersichtlichkeit, Transparenz und vor allem Lesbarkeit, von der bei der Bonner Ausgabe bei allem Respekt nie die Rede sein konnte.

Für die Herausgeber des dritten Bandes der Tübinger Ausgabe lag eine Schwierigkeit sicherlich darin, diese Vorteile zu wahren und gleichzeitig dem besonderen Charakter der Aufzeichnungen Celans zur Büchner-Preis-Rede gerecht zu werden. Celan hat die Entstehung seiner Gedichte in den meisten Fällen sehr genau dokumentiert und die einzelnen Blätter systematisch in Mappen zusammengestellt, was eine genaue Rekonstruktion der genetischen Schichten ermöglicht. Dem gegenüber sind die Arbeitsnotizen zum "Meridian" von ihm selbst nur in sehr geringem Umfang systematisch bearbeitet worden, stellen kein "strikt genetisches Corpus" dar, wie das editorische Vorwort bemerkt, sondern vielmehr "eine breite, heterogene, privaten Bedürfnissen gehorchende Hinterlassenschaft von Versuchen, Gedanken zur eigenen Dichtung aufzuschreiben." Das hängt unter anderem damit zusammen, daß Celan schon lange vor Bekanntgabe der Preisverleihung an solchen Versuchen gearbeit hat, es liegt aber auch in der Sache und in persönlichen Fragen und Zweifeln begründet, die Celans Arbeit an diesem Text stets begleitet haben. Ganze Gedankenkomplexe sind im Laufe von mehreren Jahren entwickelt und wieder verworfen worden, haben sich gleichsam selbständig weiterentwickelt und sind am Ende doch alle ineinander verzahnt.

Die an Gedichten schon oft beobachtete Vorgehensweise der sukzessiven Reduktion, der Auslöschung privater Bezüge und damit Verallgemeinerung der Aussage, die auch das Gesamtwerk chronologisch bestimmt, tritt hier besonders deutlich hervor. Außerdem ist Denken für Celan oft "ahnendes Denken", oft prägen es "Einsichten" mehr als "nur logisch determinierte Abläufe", so daß ein assoziatives Geflecht von Ideen die Entstehung der Rede begleitet, in dem Celan selbst häufig springt. Unter diesen Voraussetzungen ein genetisches Schichtenmodell zu konstruieren, wäre fatal, weil sich das Ganze weder logisch noch chronologisch so aus seinen Teilen ergibt, als gäbe es Steine, aus denen schließlich ein Haus wird.

Zwar rückt dieser Satz von der "Darstellung der Schichten ihrer Genese" (so noch in den früheren Bänden) auch hier an den Anfang des editorischen Vorworts, im Grunde ist man dieser Vorgabe aber nicht mehr gefolgt. Durch den ebenso klugen wie einfachen Kunstgriff einer chronologisch rückläufigen Anordnung der Textzeugen ist eine sehr überzeugende Darstellungsweise gelungen, die der Implikation einer intentionalen Linearität, wie sie bei den Gedichtbänden noch sinnvoll und vertretbar erschien, von vornherein entgegenwirkt.

Die Tübinger Ausgabe beginnt also mit der Büchner-Preis-Rede in ihrer endgültigen Gestalt. Der Text ist nach Absätzen durchnumeriert und darin jeweils nach Sätzen durchalphabetisiert, so daß der vergleichende Rückgriff beim Einstieg in die "Vorstufen", "Entwürfe" und "Materialien" jederzeit gewährleistet ist. Die Herausgeber haben damit weit mehr getan, als nur eine editorische Grundregel zu befolgen. Denn dahinter verbirgt sich die Aussage, daß die Alinearität ein wesentlicher Bestandteil des Celanschen Denkens und Arbeitens ist. Indem die "Um-Wege" der Textzeugen im folgenden weitgehend unangetastet bleiben, ist erst die Voraussetzung für eine angemessene Rezeption dieser Arbeitsweise geschaffen.

Entsprechend wird die aus den Gedichtbänden vertraute synoptische Darstellung hier nur in den "Vorstufen" zur "Endfassung" beibehalten. Wir lesen doppelseitig und kehren kurz zur spaltenweise chronologischen Anordnung von Textfassungen zurück, die der Rede noch weitgehend gleichen, an denen im direkten Vergleich aber letzte Streichungen, Ergänzungen und Umstellungen sowie wichtige Gliederungsmaßnahmen durch Einfügung von Leerzeilen und Zeilenumbrüchen ablesbar werden. Der übrige und insgesamt weitaus größere Teil des Textbestandes ist so angeordnet, daß man im Laufe der Lektüre zu immer kleineren und von der eigentlichen Rede immer weiter entfernteren Textzeugen vordringt.

Als "Entwürfe" erscheinen Passagen, die den eigentlichen Redetext vorformulieren und so noch in relativer Nähe zur Endfassung stehen. Sie sind den einzelnen Redeabschnitten über Nummern und Buchstaben eindeutig zugeordnet. Weit weniger eindeutig hingegen läßt sich die Fülle von Bruchstücken, Lese- und Arbeitsnotizen verorten. Die "Materialien" sind dementsprechend nach Hauptthemen wie Dunkelheit, Atem, Begegnung sortiert, die Celans Denken im Umfeld des "Meridian" grundsätzlich prägen und mit verschiedenen Teilen der Rede sowie einer Vielzahl von Gedichten aus dieser Zeit in Verbindung gebracht werden können. Sämtliche Textzeugen tragen die Signaturen des Marbacher Literaturarchivs, die "Entwürfe" und "Materialien" sind zusätzlich mit laufenden Nummern versehen. Sie dienen der Rekonstruierbarkeit der überlieferten Anordnung, gleichzeitig wurde damit ein internes System von Parallelstellenverweisen geschaffen, das deutlich macht, wie eng auch entlegenste Textzeugen miteinander verknüpft sind.

Den Textteil dieser Ausgabe abschließend folgen der Rundfunk-Essay zu Ossip Mandelstam und der Abdruck eines Briefes an Hermann Kasack, in dem Celan für die Benachrichtigung über die Verleihung des Büchner-Preises dankt. Beide Dokumente enthalten sowohl Konzeptionen von Dichtung als auch Formulierungen, auf die Celan mehrfach zurückgreifen wird. Besonders wertvoll ist der Radio-Essay, der zuvor in keiner Celan-Ausgabe abgedruckt war, weil er deutlich zeigt, welchen Einfluß Ossip Mandelstam, der spätere Widmungsadressat der "Niemandsrose", schon hier auf Celans poetologische Grundüberzeugungen hatte. Was in diesem Zusammenhang fehlt, ist der Abdruck der Bremer Rede (1958), auf deren Bedeutung für die Büchner-Preis-Rede als frühester Textzeuge überhaupt das editorische Vorwort nur mit einigen Zitaten aufmerksam macht.

Aus editorischer Sicht liegt mit der Tübinger Ausgabe zum "Meridian" eine Mischung aus historisch-kritischer Ausgabe und dem Tübinger Konzept einer kritisch edierten Studienausgabe vor. Grundsätzlich teilt sie die Anforderungen beider - daß sie beiden nicht in jeder Weise gerecht werden kann, ergibt sich aus dieser Anlage von selbst. Alle Schritte und Maßnahmen, die zu der vorliegenden Präsentation des umfangreichen Textmaterials geführt haben, sind im editorischen Vorwort motiviert und im Anhang sehr sorgfältig dokumentiert. Der kritische Leser hat jederzeit die Möglichkeit, das Vorgehen der Herausgeber nachzuvollziehen und so zur überlieferten Form aller Zeugnisse zurückzukehren. Wer mehr will, muß nach Marbach.

Dagegen sind nicht alle Wünsche berücksichtigt, die der unvorbereitete Leser an eine Studienausgabe stellen mag und von ihr erfüllt sehen will. Studienausgabe heißt allerdings nicht Kommentar, Präsentation in diesem Falle nicht Interpretation. Die Anmerkungen sind mager und beschränken sich auf den Nachweis der Zitate und knappe Begriffs- und Personenerläuterungen. Auch aus dem Vorwort erfährt man nicht viel, was über die editorische Einleitung und Vorstellung der Textzeugen hinausginge.

All dies aber trägt dazu bei, daß die Texte selbst umso deutlicher in den Vordergrund treten. Sie werden vom editorischen Beiwerk nicht abgedrängt, sondern sprechen für sich. Das hier veröffentlichte Material war bisher fast vollständig unveröffentlicht (und in Marbach nicht zugänglich) und ist in jeder Beziehung für die Forschung von unschätzbarem Wert. Es dürfte u.a. dazu beitragen, daß viele Aspekte von Celans Werk entmystifiziert werden, weil Bezüge auch inhaltlich durchsichtiger werden und weniger Raum ist für Vermutung und Spekulation. Gleichzeitig ist mit dieser Ausgabe keine Musealisierung verbunden. Vielmehr bleibt der dialogische Charakter von Celans Texten erhalten. Er verstärkt sich in dem Maße, wie der Leser "fremde Nähe" zu ihnen gewinnt. "This is no book", hat sich Celan notiert, "who touches this touches a man" (Walt Whitman). Man kann nur allen, die sich für Celan interessieren, empfehlen, dieses Buch in die Hand zu nehmen. Denn es ist mehr als nur eine Einladung, es ist die unbedingte Aufforderung zum "Gespräch".

Titelbild

Paul Celan: Der Meridian. Böschenstein, Bernhard (Hg.).
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
297 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-10: 3518410067

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