„Mein Lebenslauf würde nicht enttäuschen“ – oder doch?

Jan-Christoph Hauschilds detailreiche Teilbiografie über B. Traven alias Ret Marut alias Otto Feige

Von Johann Georg LughoferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Georg Lughofer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jan-Christoph Hauschild, Mitarbeiter des Heinrich-Heine-Instituts in Düsseldorf, verifiziert mit beeindruckendem Detailreichtum und großer Indiziendichte die These des britischen TV-Journalisten Will Wyatt aus den 1970er–Jahren: Hinter dem Pseudonym Ret Marut, dem späteren B. Traven, steckt Otto Feige, ein Maschinenschlosser aus Schwiebus. Diese Überzeugung präsentierte Hauschild zwar schon 2009 in der „F.A.Z.“, doch führte dies noch zu starken Zweifeln, die mit dieser Teilbiografie nun ausgeräumt sein dürften.

Der Mythos B. Traven, das „größte literarische Geheimnis des [letzten] Jahrhunderts“, so die Londoner „Times“, nährte längste Zeit biografische Spekulationen. Der Erfolgsschriftsteller hielt seine Person durch ein umfassendes Sicherheitssystem von Deckadressen, Postschließfächern und dem vorgeschobenen Bevollmächtigten Hal Croves, niemand anderer als er selbst, bedeckt. Dies sorgte seit der Premiere 1948 des mit einigen Oscars prämierten Films „The Treasure of the Sierra Madre“ von John Huston für ein weltweites Rätselraten um die Identität des mysteriösen Autors. Verdächtigt, Traven zu sein, wurden viele: vom dänischen Ethnologen bis zu einem Kollektiv, vom tschechischen Schriftsteller bis zum österreichischen Erzherzog, vom Hohenzoller Kaisersohn bis zum slowenischen Schafhirten, von Walter Rathenaus Halbbruder bis zum Neffen Oscar Wildes. Der Harvard-Germanist Karl S. Guthke vermutete, dass Traven ein Spross einer Provinzschauspielerin war – aus dem Adelsgeschlecht der Warnstedt, das auch in Traventhal nahe Marutendorf lebte. Theorien von Erlebnisträgern tauchten auf, wonach dem Schriftsteller die Geschichten von anderen Personen zugetragen wurden. Mittels der von 1951 bis 1960 erschienen „BT Mitteilungen“ mischte der Autor sogar selbst bei den Spekulationen mit. In den 1960er–Jahren war es für Europäer in Chiapas beinahe üblich, für B. Traven gehalten zu werden.

Durchgesetzt hat sich zumindest die Anschauung, die schon Oskar Maria Graf und Erich Mühsam äußerten, dass es sich bei B. Traven um den individual-anarchistischen Publizisten und Münchner Räterepublikaner Ret Marut handelte. 1966 belegte der DDR-Literaturwissenschaftler Rolf Recknagel diese These ausführlich. Drei Jahre später, nach Travens Tod, bestätigte dies auch die Witwe des Schriftstellers. Wofür aber das Pseudonym Ret Marut stand, blieb unbekannt. Weiter rankten sich zahlreiche Thesen um ihn.

Doch die Referate der jüngsten Traven-Kongresse – in Stockholm 1999, in Eutin 2003 und in Marbach 2010 – verzichteten auf diese offene biografische Frage. Man konzentrierte sich auf Travens beziehungsweise Maruts Literatur. Hauschild vermutet gar ein Interesse daran, das Faszinosum Traven aufrechtzuerhalten. Demgegenüber unterstreicht der zentrale Travenforscher Karl S. Guthke selbst die Bedeutung weiterer biografischer Forschungen: „Solche [biografische] Fragen zu stellen ist auch für den nicht abwegig, der sich pimär für das Werk interessiert.“

Hauschild geht es in diesem Zusammenhang nun um den Beweis für die These Will Wyatts, dass Ret Marut, ursprünglich Otto Feige aus Schwiebus, der 1882 geborene Sohn eines Töpfers und einer Fabrikarbeiterin, war. Den Hinweis gab der in London 1923 verhaftete Marut selbst, der unter Androhung der Abschiebung diese Identität gestand, wofür sich aber damals keine Bestätigung fand.

In detektivischer Kleinstarbeit – in verschiedenen Archiven, Bibliotheken und Sammlungen – gräbt Hauschild Dokumente aus und kann einen beinahe lückenlosen Lebenslauf Otto Feiges/Ret Maruts vorlegen. Dabei entsteht auch ein Persönlichkeitsbild Feiges, das die Umwandlung in den Schauspieler und Publizisten Ret Marut sowie in den Erfolgsschriftsteller B. Traven möglich erscheinen lässt und verständlicher macht. Denn gerade aufgrund der Unwahrscheinlichkeit, dass ein Schlosserlehrling plötzlich zum positiv besprochenen Schauspieler, aufrührenden Publizisten und revolutionären Politiker Marut wird beziehungsweise zum distinguierten, gebildeten und mehrsprachigen Traven, schien vielen Travenforschern diese These unglaubwürdig.

Auf den Spuren Wyatts belegt nun Hauschild genau: Otto Feige wuchs bei seinen Großeltern auf. Seine Schulausbildung ermöglichte die Kenntnis mehrerer Fremdsprachen. Seine Beziehung zu den Eltern gestaltete sich problematisch, spätestens seit diese die Annahme eines Stipendiums für ein gewünschtes Studium durch den exzellenten Schülers verhinderten. Als Soldat im elitären Jägerbataillon in Bückeburg lernte er Umgangsformen und legte penibel Wert auf seine Uniform. Dass Feige als überzeugter Sozialist politisch engagiert war und agitierte, ließ den Kontakt zur konservativ eingestellten Familie abbrechen. Im Deutschen Metallarbeiterverband bewies er sich in der Geschäftsführung in Gelsenkirchen, wobei er schon Reden auf Großveranstaltungen der Gewerkschaft hielt und ein Arbeitertheater sowie einen Kulturverein gründete. Dieser Otto Feige meldete sich 1907 bei der Polizei in Gelsenkirchen ab und daraufhin verlor sich seine Spur vollkommen.

Zur gleichen Zeit beginnt die Existenz des Schauspielers Ret Marut, den seine Bühnenkarriere auf verschiedene deutsche Bühnen führen sollte, wobei er auch als Regisseur und Impresario tätig wurde.

Erste literarische Versuche des Mimen führten 1915 zur neuen Selbstdefinition Maruts als Publizist – mit dem politisch-avantgardistischen Zeitschriftenprojekt „Der Ziegelbrenner“ in München. 1919 wird dieser Marut Funktionär der Münchner Räterepublik – und zwar Leiter des Presseamts und damit Chefzensor für bürgerliche Zeitungen, danach Vorsitzender der Kommission zur Gründung eines Revolutionstribunals. Nach dem gewaltsamen Ende der Räterepublik wird er „wegen Hochverrats“ gesucht und taucht unter. Hauschild versucht noch Maruts Aufenthalte bis zur Verhaftung in London zu eruieren, denn aus dem Untergrund gibt Marut ja noch Flugblätter und Zeitschriften heraus. Mit der Ankunft „Traven Torsvans“ in Mexiko 1924 endet allerdings Hauschilds Arbeit.

Über die bloße zeitliche Übereinstimmung des Verschwindens Feiges und des Auftauchens Maruts sowie über das Londoner Geständnis hinaus schließt Hauschild die Indizienkette: Die Erstauflagen der Werke Travens zeigen eine Vertrautheit mit deutschen Landstrichen, in denen Feige lebte. Zwischen den journalistischen Äußerungen Feiges und Maruts finden sich inhaltliche und stilistische Parallelen. In Maruts Schriften tauchen Figuren auf, welche ihre bisherige Existenz ausgelöscht haben, wobei die Veränderung stets positiv markiert wird. Das Interesse an Technik im Werk Maruts sowie Travens passt zur Ausbildung und Spezialisierung Feiges. Besonders überzeugend entkräftet Hauschild das unter anderem von Guthke vorgebrachte Argument, Marut scheint – nach eigenen Angaben – um die Jahrhundertwende in Indochina gewesen zu sein. Diese Angaben beruhten auf sein Interesse, den in dieser Gegend handelnden Roman „Die Fackel des Fürsten“ als möglichst authentisch zu verkaufen. Eine von Marut angegebene, vermeintlich große Kennerschaft verratende Literaturliste fand Hauschild gar im zeitgenössischen Meyers Großes Konversations-Lexikon.

Ein Schriftvergleich und die Übereinstimmung in der Gesichtsgeometrie runden das Bild ab – schade nur, dass hier keine weiteren Kriminologen zu Rate gezogen wurden, sondern dass es Hauschild mit der von Will Wyatts veranlassten Überprüfung aus den 1970er–Jahren durch einen Experten der Universität Manchester bewenden lässt, der die Zufallswahrscheinlichkeit – passend für eine BBC-Dokumentation – mit 1 zu 50 Millionen angibt.

Der Detailreichtum der Ausführungen Hauschilds mag mancherorts übertrieben erscheinen, etwa wenn seitenweise das historische Schwiebus, heute übrigens Swiebodzin in Polen, und andere Aufenthaltsorte Feiges vorgestellt werden. Darüber hinaus erfährt der Leser die Einzelheiten der Bückeburger Jägeruniform bis hin zu Messingknopf und Nahtverarbeitung, sowie jeden Umsatz in Feiges Gewerkschaftskasse in Gelsenkirchen auf Mark und Pfennig. Ebenso wird das Leben Ret Maruts mit größter Detailverliebtheit geschildert: Annoncen im Theater-Courier, auf die Marut möglicherweise geantwortet hat, finden sich zur Gänze abgedruckt, die Wohnadressen der Familien seiner Liebschaften angeführt. Bei Maruts Engagements werden neben dem kompletten Repertoire – das während zwei Spielzeiten schon mal bis zu 70 Stücke ausmachte – auch alle EnsemblekollegInnen angeführt. Inhaltlichen Einflüssen der Theaterstücke wird dagegen nicht nachgegangen. Manche Details hätte man wohl sparen können um mehr Platz für inhaltliche Auseinandersetzungen zu schaffen. Wünschenswert wären dabei manche Vertiefungen gewesen, so hinsichtlich des allzu oberflächlich angesprochenen Antisemitismus im „Ziegelbrenner“.

Eine eigenwillige formale Gestaltung des Anmerkungsapparats wirkt sich leider störend auf die Lesbarkeit aus. Auf Endnoten wird verzichtet und die Anmerkungen sind nach Seitenzahlen und mit Angabe der Wörter, auf die sie sich beziehen, aufgereiht. Im Haupttext selbst fehlt aber jeglicher Hinweis auf Anmerkungen. Oftmals blättert man in Erwartung notwendiger Quellenangaben bei Zitaten oder Quantitätsnennungen auf die letzten Seiten, um festzustellen, dass die Quellen nicht angeführt sind. Nach mehreren solchen Enttäuschungen werden es die meisten LeserInnen dann wohl sein lassen. Somit ist der Nutzen von über 100 Seiten Anmerkungen stark relativiert.

Diese Form verwundert umso mehr, da der fast 700 Seiten umfassende Haupttext ausschließlich ein Lesepublikum anspricht, das durchaus an End- oder Fußnoten gewohnt ist und davon wohl nicht irritiert sein dürfte.

Doch diese Mängel werden letztlich von der umfassenden und präzisen Forschungsarbeit Hauschilds aufgewogen, die überzeugend den Beweis antritt, dass Ret Marut notwendige Vorkenntnisse für die Tätigkeit und das Leben als B. Traven nicht als Hohenzollernprinz oder als Bühnenkind gewonnen hatte, sondern als Schlosserlehrling und Gewerkschafter Otto Feige in Schwiebus und Gelsenkirchen. Dass dies nicht gerade die exotischste Lösung des Rätsels ist, wird vor dem Hintergrund eines 1926 von Traven an die Leser seines Verlags, der Büchergilde Gutenberg, geschriebenen Brief ersichtlich, in dem er versichert, dass sein Lebenslauf nicht enttäuschen würde. Gemeint war wohl die abenteuerliche Biografie Ret Maruts. Der erste Lebensabschnitt als Otto Feige setzt jedoch keine ähnlich spannende und überraschende Vorgeschichte daneben, sondern wirkt beinahe bieder und unspektakulär. Darin sieht Hauschild auch den Grund für die Verschleierung.

Nannte Guthke alle bisherigen Hypothesen, darunter die zu Otto Feige, „undokumentierbar und wenig plausibel“, so hat nun Jan-Christoph Hauschild das Gegenteil bewiesen. Dies gilt, auch wenn einige Fragen nicht restlos beantwortet wurden, so etwa jene nach den Gründen für die Unbedingtheit, mit denen Traven seine Anonymität verteidigt hat beziehungsweise jene nach den Quellen der Unterstützung, welche das Erscheinen der Zeitschrift in Kriegszeiten ermöglichte und die auf persönliche Beziehungen hindeuten, die für die Erschließung dieser abenteuerlich-rätselhaften Biografie gewiss von Interesse wären.

Für eine literaturwissenschaftliche Perspektive sind diese Erkenntnisse allerdings nur bedingt aufschlussreich, da Otto Feige nur einen Namen, aber kein Werk hinterlassen hat. Die Vorgeschichte Ret Maruts als Otto Feige ist nun dokumentiert und erscheint plausibel, weswegen sie sich, soviel darf wohl angenommen werden, wie vormals die Marut-Hypothese durchsetzen wird. Dies ist der bleibende Wert von Hauschilds Arbeit, der damit eine wichtige Ergänzung der vorhandenen Biografien vorlegt.

Titelbild

Jan-Christoph Hauschild: B. Traven – Die unbekannten Jahre.
Springer Verlag Berlin, Wien 2012.
696 Seiten, 38,86 EUR.
ISBN-13: 9783709111543

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