Archaische Spannung vor dem Hintergrund der klassischen Ödipus-Sage

„Den Vater töten“ ist ein lesenswerter neuer Roman der routinierten belgischen Geschichtenerzählerin Amélie Nothomb

Von Barbara TumfartRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Tumfart

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Belgierin Amélie Nothomb (geboren 1967) ist eine außergewöhnlich talentierte und überaus produktive Schriftstellerin. Ihre Romane schaffen es stets problemlos auf die ersten Ränge der französischen Bestsellerlisten, werden in zahlreiche Sprachen übersetzt und haben mittlerweile eine große und treue Lesergemeinde. Ihr zwanzigster Roman „Tuer le père“ liegt nun auch in einer deutschsprachigen Übersetzung von Brigitte Große im Diogenes Verlag vor. Schmerzlich vermisst der Nothomb-Fan bei dem gerade einmal 120 Seiten fassenden Buch die für die Belgierin so typische ironisch-satirische Ausdrucksweise und den Hang zum schwarzen Humor. Was sich im Vergleich zu den literarischen Vorgängern nicht geändert hat, ist Nothombs unnachahmliches Gespür für interessante, bisweilen skurrile Geschichten, die sie in ihrer prägnante, trockenen, kurz angebundenen Sprache erzählt. In ihrem aktuellen Buch dreht sich alles um die Welt der Magie, der Täuschung und des Betrugs vor dem klassischen Hintergrund der Ödipus-Sage.

Joe Whip, ein vierzehnjähriger Bursche, wächst ohne Vater bei seiner nymphomanischen Mutter in Reno auf und verbringt seine Zeit lieber mit dem Erlernen von Zauber- und Kartentricks, als die Schulbank zu drücken. Schließlich setzt ihn die Mutter vor die Tür, weil ihr der neue Liebhaber wichtiger ist. Joe schlägt sich mit Kartentricks in diversen Bars durch, wo eines Abends ein unbekannter Gast auf ihn aufmerksam wird und ihm den Magier Norman Terence als Lehrmeister empfiehlt. Joe sucht den großen Zauberer auf und wird überraschenderweise von dem grundehrlichen und integren Norman und dessen Frau Christina, einer Feuertänzerin, wie ein Familienmitglied aufgenommen. Norman bringt Joe alle möglichen Zaubertricks bei, versucht aber auch, den jungen Burschen auf positive Art und Weise zu lenken und zu beeinflussen. Sein edler Plan, aus Joe einen ehrlichen und guten Menschen zu machen, schlägt allerdings wegen dessen betrügerischer und schlechten Gesinnung fehl. Der Junge verliebt sich in die naive und ahnungslose Christina und verfolgt fortan nur mehr ein Ziel: Christina auch körperlich zu besitzen und den Ziehvater auszuschalten. Nach seinem 18. Geburtstag darf er die beiden Künstler zum „Burning Man Festival“, einem wilden Neohippie-Freiluftspektakel in der Wüste von Nevada begleiten. Nach der Einnahme von LSD schläft Christina im Drogenrausch mit Joe. Norman kommt zwar dahinter, reagiert aber ganz anders als von Joe erwartet, was diesen dazu veranlasst, die beiden zu verlassen und sich fortan als Kartentrickbetrüger zu verdingen.

„Den Vater töten“ ist ein schwer fassbares Buch. Streckenweise absolut faszinierend, stellenweise allerdings leider in so mancher sprachlichen Plattheit und metaphorischen Überladenheit irritierend und enttäuschend. Die Charaktere sind, typisch für Nothombs Schreibstil, nur wenig ausdifferenziert und haben wenig Tiefgang. Trotzdem vermag es der neue Roman den Leser unmittelbar nach dem ersten Satz in einen unwiderstehlichen Sog zu ziehen. Archaische Spannung wird rund um eine uralte Geschichte erzeugt: eine begehrenswerte Frau zwischen zwei Männern, wobei die Brisanz derselben noch zusätzlich durch die Vater-Sohn-Komponente verschärft wird.

Titelbild

Amelie Nothomb: Den Vater töten. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Brigitte Große.
Diogenes Verlag, Zürich 2012.
120 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783257068184

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