Unbekannte Retter

William Hastings Burke stellt Hermann Görings Bruder Albert Göring vor und Gabriele Anderl erinnert in ihrem Buch „9096 Leben“ an den „unbekannten Judenretter Berthold Storfer“

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wer war Albert Göring?“ So fragt William Hastings Burke und gibt mit dem Titel seines Buchs gleich die Antwort: „Hermanns Bruder“. Das Foto zeigt einen eleganten, schlanken Herrn mit feiner Grazie eine Zigarettenspitze haltend. So ganz das Gegenteil des Bruders. Hermann Göring war ‚mächtig‘ in Gestalt und Funktion. Er gefiel sich in pompösen Auftritten, die seine Bedeutung im Nazireich deutlich machen sollten. Ob als Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe, als „Generalfeldmarschall“, als „Reichsjägermeister“ oder als Beauftragter des Vierjahresplans, der geltungssüchtige Naziführer wusste sein Ego ebenso wie sein Vermögen zu steigern. Als Ranghöchster aus der Führungsclique der Nazis fiel er nach Kriegsende 1945 den Alliierten in die Hände, die ihm den Prozess machten. Zum Tode verurteilt entzog sich Göring der Hinrichtung durch Selbstmord.

Es ist bis heute weitgehend unbekannt, dass dieser verbrecherische Machtmensch einen jüngeren Bruder hatte, der, so schreibt Burke, „von Anfang an als das schwarze Schaf der Familie“ galt. In diesem Falle verweist eine solche Beschreibung aber nicht auf Charakterdefizite sondern im Gegenteil: der am 9. März 1895, zwei Jahre nach Hermann, geborene Albert entwickelte seinen Status mit außenseiterischer Konsequenz. Ein „wacher Sinn für Widerstand“ bewährte sich nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933. Albert Göring verließ Deutschland, nahm Kontakt zu Widerständlern auf, unterstützte insbesondere tschechische Widerstandsgruppen im „Protektorat Böhmen und Mähren“ und verhalf Menschen zur Rettung vor den Nazi-Häschern.

Dass nun ausgerechnet der führende Nazi Hermann Göring einen Bruder hatte, der mit den Nazis nichts zu tun haben wollte, faszinierte im fernen Australien den Autor Burke. Er begann zu recherchieren und fand schließlich in Washington eine von Albert Göring während seiner Verhöre durch amerikanische Militärs nach Kriegsende handschriftlich notierte „Liste der Geretteten“ mit 34 Namen. Mit dieser Liste „als Landkarte“ brach der Australier nach Europa auf, um Menschen und Spuren zu finden, „die Albert Görings lebendiges Andenken wahren.“

Burke kann so eine Menge Material über den Göring-Bruder zusammentragen. Er verfolgt aber nicht die Absicht, seine Erkenntnisse im Rahmen einer objektivierenden wissenschaftlichen Analyse vorzustellen und einzuordnen. Sein Buch endet mit dem Satz: „Ich danke Albert Göring, der meinen Glauben an die Menschheit gefestigt hat.“ In diesem Sinne ist das Buch Ausdruck einer zuweilen euphorischen Subjektivität, die sich aus der Faszination des Autors für Albert Göring speist. Eine wirkliche Grundlage zur historischen Einordnung liefert das Buch nicht. Wie beispielsweise ist zu beurteilen, dass die widerständigen Tätigkeiten Albert Görings auch zuweilen durch die ‚schützende Hand‘ des mächtigen Bruders gedeckt wurden? Fragen, inwieweit das Wissen um die Macht des Bruders vielleicht sogar Teil eines rationalen Kalküls Albert Görings war, bleiben unbeantwortet. So liegt das wesentliche Verdienst des Buches darin, einen Anstoß zur Erinnerung an Albert Göring geleistet zu haben.

Burkes vergleicht an einer Stelle seines Buchs Albert Göring mit Oskar Schindler. Sein Name steht seit dem Film „Schindlers Liste“ gewissermaßen stellvertretend für jene lange Zeit vergessenen Menschen, die mit ihren jeweiligen Mitteln versuchten, andere Menschen vor den Nazis zu schützen und zu retten. Und so beginnt auch Gabriel Anderls Buch „9096 Leben“ über Berthold Storfer mit einem Verweis auf Schindler: „Berthold Storfer hat weitaus mehr Menschen gerettet als der inzwischen weltweit bekannte Oskar Schindler – wenn auch unter ganz anderen Rahmenbedingungen und in einer früheren Phase der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten.“ Es scheint, als brauche jede Neuentdeckung oder Wiedererinnerung eines Retters den Vergleich mit Schindler, um angemessen wahrgenommen zu werden. Ein wenig mehr Sorgfalt und Gelassenheit beim Gebrauch der historischen Analogien erscheint ratsam, ehe derartige Vergleiche am Ende dazu beitragen, eine Rangliste der ‚effektivsten‘ Helfer aufzustellen. Es ist auch aus diesem Grunde an den Talmudspruch zu erinnern, der da sagt: „Wenn einer eine einzige Seele rettet, ist es so, als hätte er die ganze Welt gerettet.“

Im Vorwort zu Anderls Buch über den „unbekannten Judenretter Berthold Storfer“ zitiert der kürzlich verstorbene Arno Lustiger den Talmudspruch und verweist dabei auf eine weitere Konkurrenz der Retter. Entgegen dem universalistischen Gebot des Spruchs werden in der Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte“ nur nichtjüdische Retter geehrt. Berthold Storfer aber war Jude.

Die österreichische Autorin Gabriele Anderl legt nun eine umfangreiche Biografie des weithin unbekannten Storfers vor. 1880 in Czernowitz, dem „Klein-Wien des Ostens“, geborene Storfer kam in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie zu Ansehen und Wohlstand. Im Ersten Weltkrieg hochdekoriert führte der „Kommerzialrat“ nach 1918 in Wien eine erfolgreiche börsennotierte Bankgesellschaft. Mit dem „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich endete aber 1938 dieses Leben. Zum Ausbruch kam ein ungehemmter Antisemitismus. In Wiens Straßen kam es zu brutalen und menschenverachtenden Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung. Wer konnte, versuchte Österreich zu verlassen.

Tatsächlich war in dieser Phase der Judenverfolgung, bevor die eingeleitete Entrechtung der Menschen in die systematische Verfolgung und Ermordung mündete, die erzwungene Auswanderung für die Nazis eine Option. Modellhaft sollte dies die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien“, die 1938 unter der Leitung von Adolf Eichmann eingerichtet worden war, erledigen. Völlig unklar aber war, wohin die vielen Flüchtlinge ‚auswandern‘ sollten. Für viele war das britische Mandatsgebiet Palästina ein Fluchtort. Dorthin organisierten zionistische Organisationen Illegale Transporte, jedoch vor allem für ausgewählte junge und gut ausgebildete Menschen, mit denen der Aufbau eines jüdischen Staates im Mandatsgebiet zu leisten sein sollte. Nun bediente sich Eichmann Storfers Hilfe. Er sollte die Organisation und Durchführung der Schiffstransporte, die über die Donau und das Schwarze Meer nach Palästina führten, übernehmen. Gleichzeitig sollte er die verschiedenen zionistischen Transportaktivitäten koordinieren, wovon man sich auch eine gewisse Kontrolle dieser versprach. 1940 gelang es Storfer mit Geschick und aufgrund seiner weitgehenden Verbindungen in insgesamt vier Schiffstransporten 9.096 Juden aus Österreich und Deutschland nach Palästina zu ‚retten‘.

Storfers Bemühungen, möglichst viele Menschen, darunter auch solche, die für die zionistischen Transporte aufgrund ihres Alters oder möglicher Gebrechen keine Chance gehabt hätten, in seinen Transporten unterzubringen, wurden von den zionistischen Organisationen mit Misstrauen betrachtet. Man warf ihm vor, mit der SS zu kollaborieren.

In ihrem Buch kann Anderl darstellen, dass dieser Vorwurf zu Unrecht erhoben wurde. Als 1941 die erzwungenen Ausreisen eingestellt wurden und im Gefolge der Wannseekonferenz im Januar 1942 die Ermordung der Juden in Europa in Gang gesetzt wurde, geriet auch Storfer den Mördern in die Hände. Er wurde nach Auschwitz deportiert. Ausgerechnet dort begegnete er im Herbst 1944 noch einmal Adolf Eichmann. Anderl zitiert Eichmanns zynisch-falsche Erinnerung an dieses „normale menschliche Treffen“ während seiner Vernehmungen in Jerusalem: „Ja, mein lieber guter Storfer,“ habe er, Eichmann, zu Storfer gesagt, „was haben wir denn da für ein Pech gehabt?“ Er habe dann beim Kommandanten Höß eine Arbeitserleichterung für Storfer erreichen können. „Sage ich: ist das recht, Herr Storfer? Passt Ihnen das? Da war er sehr erfreut, und wir gaben uns die Hand […] das war für mich eine große innere Freude gewesen, dass ich den Mann, mit dem ich so lange Jahre, den ich so lange Jahre, zumindest sah – und man sprach.“ Wenige Wochen später wurde Storfer in Auschwitz ermordet.

Titelbild

William Hastings Burke: Hermanns Bruder. Wer war Albert Göring?
Übersetzt aus dem Englischen von Gesine Schröder.
Aufbau Verlag, Berlin 2012.
237 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783351027476

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Titelbild

Gabriele Anderl: »9096 Leben«. Der unbekannte Judenretter Berthold Storfer.
Rotbuch Verlag, Berlin 2012.
400 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783867891561

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