Gojisch oder jiddisch

Thomas Meyer stellt in seinem Debüt „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“ Fragen über Schicksal und das Erwachsenenwerden

Von Jana ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Motti Wolkenbruch ist ein 25-jähriger jüdisch-orthodoxer Schweizer. Ganz gegen den Wunsch seiner dominanten Mutter spürt der Student, dass das Leben auch fernab der jüdischen Gemeinde in Zürich etwas für ihn bereit halten muss und verliebt sich in die „gojische“ Kommilitonin Laura. Diese begegnet ihm in den Vorlesungen jedoch bloß mit Ignoranz, und Motti bleibt weiter den offensichtlichen und peinlichen Verkupplungsversuchen seiner Mutter ausgesetzt. Dabei lernt er jedoch die junge Jüdin Michèle kennen, und die beiden freunden sich in ihrem gemeinsamen Schicksal an – denn auch Michèle soll von ihrer Familie gewissermaßen zwangsverheiratet werden: „‚Bist du auch auf einer tour de schidech?‘ ‚Ja‘, lachte ich. ‚Ich habe diesen Monat schon elf mener kennengelernt‘, sagte Michèle. Ich überlegte kurz: ‚Und ich elf frojen‘.“

Als immer offensichtlicher wird, dass die Kuppelei nicht funktioniert und Motti von jüdischen Frauen ungerührt bleibt, schicken ihn seine Eltern verzweifelt zum Rabbi, der dem weltfremd anmutenden jungen Mann ganz weltlich Musik der Andrew Sisters vorspielt und ihm eine Reise nach Tel Aviv vorschlägt. Dort jedoch rückt Motti weiter von dem für ihn vorgesehenen Weg ab, trinkt mit dem ganz anders als Mottis „mame“ geratenen Onkel Jonathan am Strand ein Bier nach dem anderen, erlernt das Meditieren und erlebt schließlich außerordentlich zufrieden seine erste sexuelle Erfahrung mit der Israelin Michal.

Ein junger Zürcher, der niemals von den Andrew Sisters gehört hat, dem Yoga völlig fremd ist und der noch nie eine Jeans getragen hat, da ihm die Tradition schwarze Kordhosen und weiße Hemden vorschreibt? Dass in einer Weltmetropole wie Zürich derart abgeschottete Communitys existieren sollen, überrascht und kann nicht ganz überzeugen – selbst wenn man an orthodoxe Fundamentalisten in Israel denkt. Es mag natürlich auch sein, dass Meyer seinen Protagonisten eben humorvoll überzeichnet hat. Dass dieser Student dann aber tatsächlich nichts mit dem Wort „WG-Party“ anfangen kann und noch nie von einem Gin Tonic gehört hat, ist vielleicht doch zu unvorstellbar, um witzig zu sein.

Die Ausschmückung des Romans mit jiddischen Sprachbrocken bietet dem Leser zwar hin und wieder erhellende Einsichten in die „jiddischkajt“, wirkt aber auch gekünstelt. Die aus Mottis Jiddisch und dem schweizerischen Deutsch seines Umfelds resultierenden Verständigungsschwierigkeiten können ebenso wenig überzeugen. So zeigt Meyer pubertäre Missverständnisse zwischen Motti und anderen WG-Partygästen: „‚Porn?‘, fragte ich nun, verwirrrt darüber, dass Enzo einen jiddischen Begriff benutzte. ‚Ja, Porn‘, sagte er. ‚Woher kennst du dieses Wort?‘, fragte ich. Enzo lachte und fragte, ob ich ihn ‚verarschen‘ wolle. Wieder ein Wort, das ich nicht kannte. Was heißt ‚verarschen?‘, fragte ich. ‚Hinters Licht führen‘, erklärte Enzo. ‚Und wieso soll ich ‚Porn‘ nicht kennen?‘ ‚Weil es ein jiddisches Wort ist‘, sagte ich. Er fragte, wofür es denn im Jiddischen stehe. Er kenne es als englisches Wort. ‚Eben, für ein por, das sich porn will‘, sagte ich. ‚Zwaj Menschen oder Tiere porn sich.‘ Enzo guckte mich einen Moment lang verständnislos an, dann platzte er lojt heraus. Nun schaute ich meinerseits verständnislos. Wir brauchten einen Moment, bis unter einer kaskad gelechter geklärt war, dass ‚Porn‘ und ‚porn‘ gar nicht so weit auseinanderliegen, und pflügten kichernd weiter durch die Menge, bis wir endlich bei Laura und ihrem Bruder angelangt waren.“ Solche Szenen sind nett zu lesen, aber leider etwas abgegriffen, was durch das Kuriosum der „jiddischkajt“ des Helden nur selten wettgemacht wird. Die ersten verhusteten Züge am Joint, schmutzige WG-Küchen und der erste Kuss mit der angehimmelten „Schickse“ Laura erscheinen leider mehr wie die klischierte Schilderung verspäteter pubertärer Erlebnisse und nicht wie ein moderner Kulturclash in einer globalisierten Welt, auf die sich der Leser vielleicht gefreut hat.

Die Schicksalsfragen, die sich Motti Wolkenbruch stellt, enthalten da schon mehr Potenzial für Unerwartetes. Auf seinem Weg ins Erwachsenenwerden erhält er nach Art der Coming-of-Age-Storys immer wieder Rat von Autoritäten. Da ist die uralte Frau Silberzweig, die ihm die Karten legt, der Rabbiner Wolf, welcher ihm die Ideale der 1968er-Generation näher bringt, Onkel Jonathan, der ihm buddhistische Weisheiten ans Herz legt. Und Motti scheint zu schwanken, ob er an einen ihm von Gott vorgebenen Weg oder an seine eigene Handlungsmacht glauben soll. Das erinnert an die Cohen-Brüder, die in ihren Filmen häufig um die Frage nach dem Schicksal kreisen, allen voran in„A serious man“. Meyers Roman gibt sich allerdings keine Mühe, diese grundsätzlichen Fragen nach Selbstbestimmung und Schicksal zu beantworten, sondern zeigt lediglich einen kurzen Ausschnitt aus der womöglich nur vorübergehenden Loslösung eines jungen Juden aus der Tradition. Einen moralischen Blick auf die Befreiung von seiner herrischen Mutter und den Sitten der jüdischen Gemeinde wirft Meyer nicht. Er begnügt sich mit der unterhaltsamen Darstellung des Erwachsenwerdens des jungen Wolkenbruch und ist damit sehr konform mit der westlichen Vorstellung vom autonomen, freien, mit der Vergangenheit brechenden und sich selbst um jeden Preis verwirklichenden Subjekts. Diese Selbstbefreiung ist noch immer mit der sexuellen Befreiung verbunden, auch bei Meyer, der hin und wieder fragwürdig detailliert die sexuellen Begegnungen seines Protagonisten schildert. Aber ob Meyers Vorstellung eines selbstbestimmten Subjekts noch mit Freiheit zu tun hat oder ob sie heute doch eher zum Dogma geworden ist, diese Frage stellt der Roman immerhin implizit – ob das vom Autor so gewollt ist oder gewissermaßen ein Versehen, das weiß der Leser bis zuletzt nicht.

Titelbild

Thomas Meyer: Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse. Roman.
Salis Verlag, Zürich 2012.
263 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783905801590

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