Ohne Glorie und Pathos

Daniel Furrers Buch schildert den Russlandkrieg von 1812 aus der Soldatenperspektive.

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit einer beeindruckenden Phalanx von Truppen aus 20 Nationen zog Napoleon im Sommer 1812 auf dem Zenit seiner kaiserlichen Macht nach Moskau. Kaum fünf Monate später war die gewaltige Streitmacht des Korsen von mehr als einer halben Million Mann, die in mancher Hinsicht auch schon eine europäische Armee gewesen ist, bei ihrer Ankunft im litauischen Wilna auf eine bemitleidenswerte Horde von einigen Tausend halbverhungerter Marodeure geschrumpft. Die wesentlichen Etappen dieses militärischen Desasters sind in ihren Zusammenhängen und Entscheidungsprozessen bereits hinreichend bekannt, so dass es dem Schweizer Historiker Daniel Furrer wohl reizvoll erschien, den ausgetretenen Feldherrnhügel einmal zu verlassen, um die überraschend reichhaltige Memoirenliteratur der Überlebenden zu einer „Geschichte von unten“ zu verarbeiten. In insgesamt 14 Kapiteln verfolgt der ehemalige Gymnasiallehrer aus dem Kanton Luzern den langen Weg der bunt gemischten Vielvölkerarmee vom Njemen bis zur Moskwa und wieder zurück zur Beresina. Was dabei an Leiden, Strapazen und Entbehrungen zu Tage tritt, dürfte sich für die Mehrheit der heutigen Leser wie eine bizarre Horrorgeschichte darstellen, in der die Menschen mit vormoderner Hilflosigkeit der erbarmungslosen Macht von Seuchen, Siechtum und extremer Witterung ausgeliefert waren. Soldaten aus Frankreich, Deutschland und der Eidgenossenschaft, allerdings vornehmlich Angehörige des höheren und mittleren Offizierskorps, kommen dabei ausführlich zu Wort. Dagegen ist die russische Seite nur durch die Aufzeichnungen des britischen Diplomaten und Abenteurers Sir Robert Thomas Wilson vertreten.

Furrer schildert zunächst die gravierenden Änderungen der europäischen Kriegführung im Gefolge der Revolution von 1789, erörtert Möglichkeiten und Grenzen der wichtigsten militärischen Parameter wie Feuerkraft, Beweglichkeit und Kommunikation, ehe er sich kurz dem Aufstieg Napoleons und der Vorgeschichte des Russlandkrieges zuwendet. Ein Vorteil seiner Darstellung liegt vor allem darin, dass der Autor nicht ursprünglich Spezialist für Militärgeschichte gewesen ist und es damit vielleicht noch besser als ein Experte versteht, den Kontext und die Rahmenbedingungen des Feldzuges von 1812 auch für den fachlich nicht versierten Leser verständlich darzustellen. In einer Mischung aus systematischer und chronologischer Gliederung bietet Furrer in seinem Buch einen Kanon von Erlebnissen, die sich auf die Bereiche Marsch, Quartier, Gefecht und Gefangenschaft verteilen und von manchen Protagonisten wie dem Franzosen Eugéne Labaume mit einem erstaunlichen Einfallsreichtum zu Papier gebracht wurden. Dem späteren Historiker diente eine Mischung aus Schwarzpulver und geschmolzenem Schnee als Tinte. Neue Anhaltspunkte für die Forschung ergeben sich aus Furrers Studie allerdings nicht, unbekannte Quellen hat er nicht erschlossen. Dass vor dem Aufkommen leistungsfähiger Schnellfeuerwaffen und Sprenggeschosse die meisten Soldaten in vormodernen Kriegen nicht in den eher seltenen Schlachten starben, sondern an Hunger, Krankheit und Entbehrungen, ist längst bekannt.

In einigen kürzeren Kapiteln widmet sich Furrer dann noch besonderen Ereignissen wie der Schlacht von Borodino, dem Brand von Moskau sowie dem verlustreichen Übergang über die Beresina. Viele der darin ausführlich referierten Erlebnisse wiederholen sich jedoch in ihren Einzelheiten, während die von Furrer nach einer nicht erkennbaren Logik eingefügten analytischen Passagen eher knapp ausfallen. So wird denn bis zum Ende nicht ganz klar, welcher Ertrag sich aus diesen Schilderungen überhaupt ziehen lässt. Was bewog tatsächlich Soldaten unterschiedlichster Herkunft unter extremsten Bedingungen und Tausende von Meilen von ihrer Heimat entfernt, ihren Vorgesetzten zu gehorchen und sich, wie die Schweizer an der Beresina, mit Todesmut den mehrfach überlegenden Russen entgegen zu stellen? Was hielt die Truppe eigentlich zusammen, wo lag die Bruchstelle des Korpsgeistes und wo etwa sind nationale Unterschiede zu erkennen?

Den ein oder anderen Topos greift Furrer zwar auf, doch ohne erkennbare Systematik und vor allem ohne auf die dazu bereits vorliegende Forschungsliteratur einzugehen. So findet sich in seinem Literaturverzeichnis nicht einmal John Keegans Standardwerk „Das Gesicht des Krieges“. Vollends irritiert ist man als Leser allerdings, wenn eine „Geschichte von unten“ schließlich mit essayistischen Betrachtungen über das Genie und die historische Größe Napoleons endet und dabei auch noch ausführlich die Referenzgestalten der klassischen Historiografie des 19. Jahrhunderts zitiert werden. So bleibt am Ende nur der Eindruck eines immerhin schön gestalteten Lesebuches für das breite Publikum, wie es allerdings schon einmal vor Jahrzehnten in der Reihe „Augenzeugenberichte“ des Deutschen Taschenbuch Verlages auf dem Markt zu haben war.

Titelbild

Daniel Furrer: Soldatenleben. Napoleons Russlandfeldzug 1812.
Schöningh Verlag, Paderborn 2012.
328 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783506774088

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