Jenseits des Vertrauens

Irène Némirovsky „Meistererzählungen“ versetzt Leserinnen und Leser in einen Rausch

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Berühmt geworden ist die 1942 in Auschwitz ermordete Schriftstellerin Irène Némirovsky Anfang des 21. Jahrhunderts mit dem Roman „Suite française“ – eine Wiederentdeckung, denn vor ihrer Verhaftung und Deportation war die Autorin in Frankreich sehr wohl bekannt, sie galt als eigentlicher Star der französischen Literaturszene. Mit ihrer Familie ging die 1903 in Kiew als Tochter eines jüdischen Bankiers Geborene nach der Oktoberrevolution nach Paris. In ihren Romanen erkundete sie mit gnadenlosem Blick die Dekadenz der Oberschicht in all ihren Facetten. Früh schon erkannte sie, was sich in Europa zusammenbraute. Nachzulesen ist dies etwa in ihrem Roman „Die Familie Hardelot“, der neben weiteren ihrer Werke im Albrecht Knaus Verlag München erschienen ist.

Seit Herbst 2011 liegt nun auch ein Band mit dem Titel „Meistererzählungen“ vor. Dass dieser Titel nicht zu hoch gegriffen ist, zeigt sich bei der Lektüre rasch. Die neun Erzählungen sind großartig, dies lässt sich nicht anders sagen – viel trägt hier die Übersetzung von Eva Moldenhauer bei, die einmal mehr Némirovskys Texte in ein Deutsch überträgt, das den Niedergang, die Brüchigkeit einer Gesellschaftsschicht, aber auch die Sehnsüchte und Verzweiflung der Menschen auferstehen lässt.

„Rausch“, gleich die erste Erzählung, zieht die Leserin von den ersten Zeilen an in Bann. Angesiedelt ist die Geschichte in einer finnischen Stadt, es ist der Winter 1917/18. Offiziere russischer Regimente verstecken sich, sie kommen ursprünglich aus Finnland, haben aber in der Fremde gelebt. Nun gehören sie nirgends mehr hin, sind buchstäblich zwischen die Fronten geraten. So auch Ivar, der Unterschlupf bei seiner Schwester Aino findet, ohne dass deren Ehemann etwas davon erfahren darf. Doch die Zeit der Entbehrungen macht die Leute müde – und unvorsichtig. Eines Nachts lassen sie alle Zurückhaltung fahren und erobern verschlossene Paläste und Weinkeller, wo sie das finden, was ihnen lange verwehrt war. Auch Aino geht unter das Volk, um den Soldaten Hjalmar zu treffen, und Ivar verlässt sein Versteck. Das Fest berauscht; was erst als Freude erlebt wird, entwickelt sich rasch und gipfelt in einer anderen Form von „Schlacht“. Der Rausch lässt die Schranken fallen, es bleiben Zerstörung und Entsetzen. Und angesichts der Trostlosigkeit des Lebens hilft nur noch Vergessen: „Es ist besser zu vergessen. Die Nacht ist vorüber. Die Flammen sind in sich zusammengefallen, die Freudenfeuer erloschen. Sie wird sich abwenden, wenn sie Hjalmar auf der Straße begegnet, und er selbst denkt sicher schon nicht mehr an sie, und die vergangene Nacht ist wie ein Traum. Die Dünste des Weins …“

In einer weiteren Erzählung – „Sonntag“ – geht es um eine „normale“ Familie an einem gewöhnlichen Sonntagnachmittag im Jahr 1934. Guillaume, der Ehemann, wird auch an diesem Tag aufs Land fahren und seine Geliebte aufsuchen. Pro forma fragt er selbstverständlich seine Frau Agnès, ob sie ihn begleite, doch sie muss zu Hause bleiben, da die jüngere Tochter Nanette nicht ganz gesund ist und die Mutter sie nicht allein zurücklassen will. Nadine hingegen, die ältere Tochter – sie ist bereits zwanzig –, zieht es hinaus, sie wird ihren Geliebten treffen, von dem niemand etwas weiß. Aber Rémi erscheint nicht zur Verabredung. Nadine wartet – und als sie bei ihm anruft, lässt er sich verleugnen. Dass Mutter und Tochter beide leiden, und beide wegen der Untreue eines Mannes, wissen sie zu diesem Zeitpunkt nicht. Die junge Frau glaubt noch an die Liebe, was die Ältere bereits seit Langem aufgegeben hat. Und die Mutter weiß auch, dass es ihrer Tochter einmal nicht anders gehen wird als es ihr ergangen ist.

Es ist diese Einsamkeit, dieses Fehlen von Vertrauen, Geborgenheit, Schutz, die in Némirovskys Erzählungen bei der Lektüre beinahe physisch erlebbar werden. Sie schont ihre Figuren nicht: auf die immer wieder auflebende Hoffnung folgt die Enttäuschung. Vergessen würde zwar helfen, doch möglich ist es nicht. Der Krieg, der eine ist erst kurze Zeit vorbei, der zweite zu erahnen oder bereits ausgebrochen, ist überall präsent. Sehr eindrücklich ist dies etwa zu lesen in der Erzählung „Der Unbekannte“, in der zwei Brüder erfahren, dass ihr Vater – der seit 1917 als vermisst galt und dessen Tod von einem Kameraden später bestätigt wurde – einen Sohn in Berlin hatte. Und der Sohn muss dieser Deutsche gewesen sein, den der eine der beiden – es war eine Nacht im Mai 1940 – erschossen hatte. Denn das Foto, datiert von 1925, das der deutsche Soldat bei sich hatte, zeigt niemand anderes als den Vater.

Die Lektüre von Irène Némirovskys Romanen und Erzählungen versetzt in einen Rausch, und wer die Autorin und ihre Werke einmal entdeckt hat, liest mit Begeisterung jedes ihrer Werke.

Titelbild

Irène Némirovsky: Meistererzählungen.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
Knaus Verlag, München 2011.
224 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783813503463

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