Love Lost

Holly-Jane Rahlens’ Science-Fiction Roman „Everlasting“ konzipiert die Liebe als hierarchische Beziehung

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Science Fiction hat nicht selten experimentellen Charakter. Die bessere jedenfalls. Allerdings experimentiert sie seltener mit der Form als vielmehr mit dem Inhalt. Genauer gesagt, sie stellt Gedankenspiele an, stellt also die Frage: Was wäre wenn? Ursula K. LeGuins in den 1960er-Jahren bahnbrechender Roman „Die linke Hand der Dunkelheit“ etwa fantasierte darüber, was wäre, wenn die Menschen immer nur für eine gewisse Zeit Geschlechtsmerkmale entwickeln würden, ohne dass sie vorher wüssten, welche es denn nun diesmal sein werden. Dreißig Jahre später stellte Amin Maalouf in „Das letzte Jahrhundert der Beatrice“ ein Gedankenexperiment an, demzufolge es in der Mitte des 21. Jahrhundert kaum noch Frauen gibt. Und nun versucht Holly-Jane Rahlens in ihrem soeben erschienenen Roman „Everlasting“ die Frage zu beantworten, was geschähe mit der Liebe, wenn es das kleine, aber so bedeutsame Wörtchen Ich nicht gäbe. Damit verquickt sie zwei gemeinhin der schlichteren Literatur zugerechnete Genres: das des weiblich konnotierten Liebesromans mit dem männlich konnotierten SF-Roman. Dieses Spiel mit den Genres wird im Roman selbst – wiederum spielerisch – thematisiert. Die Figur eines pubertierenden Mädchen beklagt, dass die SF-Romane, die ihr Bruder verschlingt „dermaßen kriegerisch“ sind, und fragt ihn, warum das so sei. „Weil Science-Fiction was für Jungs ist“, antwortet er ohne zu zögern. Sie aber findet, „ein Science-Fiction-Liebesroman wäre doch auch mal schön“.

Rahlens hat ihrer Figur eben diesen Science-Fiction-Liebesroman geschrieben. Er entwirft ein im Jahr 2265 spielendes Szenario und tritt als von einer Studentin anno 2450 „im Rahmen des Fachseminars ‚Die Toten Sprachen und ihre Kulturen – Deutsch, Teil II“ bewerkstelligte Übersetzung eines Textes aus der Handlungszeit „ins Deutsch des frühen 21. Jahrhunderts“ auf.

Wie in nicht wenigen SF-Romanen der letzten Jahrzehnte haben die Menschen sich und der Welt zwischenzeitlich – also im zwischen der Gegenwart heutiger Lesender und der Handlungszeit liegenden Zeitraum – übel mitgespielt. Dies führte etwa in Europa zum „Dark Winter“, der ausbrach, nachdem Terroristen im Jahre 2018 mittelst eines Virus-Angriffs die „Deutsche Pest“ wüten ließen. Ein Dutzend Jahre später „lag die Hälfte der Weltbevölkerung im Sterben“, womit die Seuche ihren Höhepunkt erreicht hatte. Wiederum einige Jahrzehnte später bereitete der „Große Feuersturm“ ihr ein Ende, der „zwar den Kontinent von der Deutschen Pest befreite, aber auch die Kultur Europas fast restlos vernichtet“. Seit 2095 gibt es zudem eine „Weltregierung“, das „General Global Government, kurz Triple G“ genannt. In den 170 Jahren, die seit dem Großen Feuersturm vergangen sind, „war es der Menschheit vordringlich ums Überleben gegangen, es ging darum, harte Arbeit für das Gemeinwohl zu leisten.“

Und genau aus diesem Grunde gibt es das Personalpronomen der ersten Person Singular nicht mehr. Denn um das Individuum „in den Hintergrund“ treten zu lassen und somit „Gemeinschaftssinn und Zusammenarbeit erheblich zu fördern“ wird seither der Illeismus gepflegt. „‚Illeismus‘ will heißen, von sich selbst in der dritten Person zu sprechen, wurde seit den 1930er Jahren von den United States Marines praktiziert“, wie die Erzählstimme des Romans erläutert. Obwohl es zur Handlungszeit schon seit anderthalb Jahrhunderten als grober „Fauxpas“ gilt, in der ersten Person zu sprechen, unterläuft eben dies einer der Figuren bereits auf den ersten Seiten, ohne dass es jemandem auch nur auffällt. Da es sich um ein einmaliges Versehen handelt, ist es wohl eher der Autorin als der Figur anzulasten.Es bedarf keiner größeren Fantasie, um sich vorzustellen, dass mit dem Gebrauch des Wortes Ich auch die Liebe verschwunden ist. Das scheint allerdings ein durchaus willkommener Nebeneffekt zu sein, lernen doch schon die Schulkinder, „dass Liebe zu Egoismus, Eifersucht, Wahnsinn, Elend und Krieg führte.“

Irgendwann bekommen die Heranwachsenden der Zukunft einen kurz BB genannten „Brain-Button“ eingesetzt, auf den allerlei praktische ‚Apps‘ geladen sind. So ist er etwa mit „Teleskop-Programmen“ ausgestattet, erklärt „sekundenschnell“ unbekannte Begriffe, speichert regelmäßig die Erinnerungen des Tragenden, so dass jederzeit auf sie zugegriffen werden kann, und bei Einkäufen loggt sich eine „Robo-Verkäuferin“ in das „BB-Bankkonto“, um den zu zahlenden Betrag abzubuchen. Außerdem senden die Menschen einander mit seiner Hilfe Wort- und Bild-Dateien direkt in Gehirn oder sie kommunizieren über weite Entfernungen hinweg miteinander. Doch kann er auch von Viren befallen werden, die etwa bewirken, dass man ständig den gleichen Gedanken und die gleichen Worte wiederholt. Am 18. Geburtstag bekommt jeder Jugendliche das „Prä-Adult-Handbuch“ auf seinen Brain-Button „heruntergeladen“. Denn von diesem Tag an gelten die Menschen, deren Lebenserwartung sich nunmehr auf 150 Jahre beläuft, als „Jungerwachsene“. Daher verlassen sie nun auch die „‚Near ‘n’ Dear’-Domänen“ genannten „riesige Gemeinschaftswohnanlagen für Familien und ganze Sippschaften“ und werden einem Prä-Adult-Domizil „zugewiesen“.

Neben dem Brain-Button hat der Fortschritt die Menschheit mit einigen weiteren Erleichterungen beglückt. So müssen sich „die Mädchen keine Sorgen wegen ihrer Brüste mehr machen. Sie konnten sie einfach gegen ein neues Paar austauschen.“ Und für Männer wurde das „Bestoppeln“ entwickelt. Ist jemand des „NudeDude-Looks“ überdrüssig, kann er eine „dezente Gesichtsbehaarung“ zulegen, „ohne sich mit der täglichen Pflege auseinandersetzen zu müssen.“

Schon im Alter von 14 Jahren wird den adoleszenten Jugendlichen nahegelegt, regelmäßig Geschlechtsverkehr zu pflegen, denn schließlich gilt er als gesund. „Jedermann wusste, wie wertvoll ein ausgewogenes Leben war. Sex war Teil dieses ausgewogenen Lebens und im Allgemeinen angenehm. Leidenschaft gehörte aber nicht dazu. Und Liebe erst recht nicht.“

Dass Sex mehr als Pflicht, denn als Lust gesehen wird, wird den Lesenden spätestens dann drastisch vor Augen geführt, wenn der Protagonist von einem Vorgesetzen aufgefordert wird, sich eine „Gefährtin“ zu suchen, denn „wir sehen es gern, wenn unsere Mitarbeiter ihr Bestes geben. An allen Fronten.“ Wenn man 28 Jahre alt ist, sollte man endlich einen festen Partner gefunden habe, andernfalls muss man die Zuteilung einer Gefährtin oder eines Gefährten beantragen. Eine Möglichkeit, die gerne genutzt wird, bedenkt die auswählende Stelle doch „einfach alles“, so werden die „Essgewohnheiten“ der ProbandInnen abgeglichen, die „DNA-Verträglichkeit“ gesichert und bei den Männern die „Spermienzahl ausgewertet“. Letztes aus guten Gründen. Denn im vergangenen Säkulum ist die Geburtenrate „dramatisch, ja fatal zurückgegangen“. Obwohl Fortpflanzung daher „zu einem Muss geworden“ ist, sind gleichgeschlechtliche Beziehungen „keineswegs undenkbar“, obgleich sie eigentlich „nicht gern gesehen“ werden.

Die sinkenden Geburtenrate hat eine „fieberhafte Forschung auf dem Gebiet der Fruchtbarkeitsmedizin ausgelöst“. Gebärmuttertransplantationen werden erprobt, ebenso gleichgeschlechtliche Fortpflanzung. Außerdem sind Gerüchte über Forschungen, die auf Selbstbefruchtung zielen, im Umlauf. Und selbstverständlich gibt es Klone, die in keinem neueren SF-Roman über Fortpflanzungstechnologien fehlen dürfen. Wie nicht selten sind sie auch in diesem Roman „ein komplexes Thema“. Denn die Autorin hat sich ein kleines Klon-Panoptikum ausgedacht, das etwa mit „Normaloklonen“ bestückt ist, die kurz „Nomoklone“ genannt werden. Außerdem gibt es noch „Memoklone“. Erstere reifen „auf natürliche Weise in einer Spendermutter heran“. Sie gelten zwar als „gesunde Menschen“, werden jedoch von der Bevölkerung als „Bürger zweiter Klasse“ betrachtet, da ihnen „das Stigma der ‚Unnatürlichkeit‘ anhaftet, so dass die Weltregierung sie „als Serienmenschen aus dem Umlauf nahm“ und „verstärkt auf menschenähnliche, aber emotionslose (und deswegen pflegeleichte) Androide setzte“. Um zu verhindern, dass auch sie diskriminiert werden, bleibt den Menschen unbekannt, bei welchen ihrer Mitbürgern es sich um Androiden handelt. Nur sie selbst werden an ihrem achtzehnten Geburtstag darüber informiert. Was nun die Memoklone betrifft, so werden sie nicht von Leihmüttern ausgetragen, sondern innerhalb eines Jahres in Klonfarmen „zur Reifung gebracht“. Außerdem bekommen sie die Erinnerungen des „Spenders“ übertragen, damit sie ihn bei seinem Tode ersetzen können. Allerdings funktioniert die Übertragungstechnik nur mangelhaft und die eingepflanzte Erinnerung erlischt im Laufe weniger Jahre, so dass diese Klone ihr Leben größten Teils in einer Anstalt verbringen.

Weder Klone noch sonstige Fortpflanzungstechniken vermochten das Problem der sinkenden Geburtenrate bisher zu lösen. Und genau hier setzt die Handlung der Geschichte an, obgleich sich das den Lesenden erst nach einigen hundert Seiten erschließt. Überhaupt nicht erhellt sich hingegen, warum die sinkende Geburtenrate eigentich so ein dringliches Problem ist. Dass überhaupt eine Menschheit sein sollte, wird stillschweigend vorausgesetzt, und dürfte zurecht auf die Zustimmung der meisten Lesenden rechnen können. Doch scheint es nicht einmal einen Mangel an Menschen zu geben. Schließlich tummeln sich alleine im „Prä-Adult-Domizil“ des Märkischen Viertels in Berlin, dem Handlungsort, nicht weniger als einhunderttausend junge Frauen und Männer, die eigentlich studieren sollten, aber „ständig auf der Suche nach Geschlechtspartnern“ sind. Zu ihnen gehören der 26-jährige Protagonist Finn Nordstrom und die zwei Jahre jüngere Rouge Marie Moreau, die sich bereits seit acht Jahren kennen und früher mal ein Paar waren.

Während Finn als „Historiker für Alltagskultur der Jahre 1950-2018, also der Periode unmittelbar vor dem Zeitalter des Dark Winter“, sowie als einer der wenigen „ausgebildeten Übersetzer aus dem Neuen Standartmandarin und aus der toten Sprache Deutsch ins Englische“ und vor allem als „Spezialist für das Entschlüsseln handschriftlicher Texte in Deutsch und Englisch“ an der europäischen Bibliothek tätig ist, handelt es sich bei seiner früheren Freundin mit dem weiblich konnotierten Vornamen um eine „Junior-Physikerin“, die „am renommierten Olga-Zhukova-Institut für Angewandte Physik angestellt“ ist, an dem sie zugleich ihre Dissertation schreibt. Mit ihrer Tätigkeit als Naturwissenschaftlerin durchbricht sie eines der zumindest heute noch weithin virulenten Weiblichkeitsklischees. Jedoch entspricht sie ihnen auch. Finn findet zumindest, dass sie „zwar wenig Humor“ hat, „aber leicht zum Lachen zu bringen“ ist. Andererseits gilt sie ihm wiederum als „pragmatisch“ und „mit beiden Beinen fest auf dem Boden“ stehend. Lesen, sagt sie einmal zu ihm sei „etwas für Träumer.“ Der vermeintlich weiblichen Lesewut ist sie also nicht verfallen. Er selbst sieht sich hingegen als „versponnen“. Er „liebe es, ziellos auf dem offenen Meer der Gedanken zu treiben.“ Keine wirklich ‚männlichen‘ Eigenschaft, die er sich da zuschreibt.

Überhaupt ist die Handlung von Beginn an strikt aus der Sicht Finns erzählt. Später stellt sich heraus, dass es sich bei dem vorliegenden Text um sein Tagebuch handelt, das er den Vorschriften des Illeismus gemäß in der dritten Person führt, was den angenehmen Nebeneffekt hat, dass die Lesenden lange Zeit darüber im Unklaren bleiben. Erst nach 300 der 420 Druckseiten wechselt er zur ersten Person Singular. Da haben die aufmerksameren unter den Lesenden aber schon seit einer Weile erfasst, wessen Text sie hier lesen.

Zu Beginn der Handlung erhält der tagebuchschreibende Finn den Auftrag, in einem Moor gefundene Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit vor dem Dark Winter zu entschlüsseln, die, wie er herausfindet, ein 13-Jähriges Mädchen namens Eliana Lorenz im Jahr 2003, also vor anderthalb Jahrhunderten, geschrieben hat. Schon bald kommen seine Vorgesetzten auf die Idee, ihn zeitweise in eine virtuelle Welt zu versetzen, die derjenigen des Mädchens entspricht. Dies, so wird ihm erklärt, solle die Übersetzungsarbeit und das Verständnis der Tagebücher erleichtern. Rouge begleitet ihn auf seinen Reisen in die virtuelle Welt, ohne dass man zunächst recht wüsste, wieso. Nach Beendigung der Lektüre des Tagebuches bekommt er einen angeblich soeben entdeckten Folgeband. Dies wiederholt sich ein ums andere Mal.

Aufgrund seiner Erlebnisse in der vermeintlich virtuellen Welt keimt in Finn der schließlich zur Gewissheit werdende Verdacht auf, dass sich es sich in Wirklichkeit um Zeitreisen handelt und er sich tatsächlich in Elianas Welt bewegt, wo er dem Mädchen schon bald begegnet ist. Der Umstand, dass es nicht Reisen in eine virtuelle Welt, sondern in die Vergangenheit sind, erklärt auch, warum Rouge ihn begleitet, denn ihre Dissertation behandelt einen bestimmten physikalischen Effekt dieser Zeitreisen, der bedingt, dass man nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt, sondern nur an bestimmten Tagen in die Vergangenheit reisen und auch nur zu bestimmten Zeitpunkten ankommen kann. Zudem können die Zeitreisenden sich nicht weiter als einige hundert Kilometer von ihrem Ankunftsort entfernen, da sie andernfalls an zunehmenden Kopfschmerzen und anderen körperlichen Beschwerden zu leiden beginnen.

Dass Zeitreisen nicht beliebig möglich sind und die Zeitreisenden mehr oder weniger ortsgebunden bleiben, wird – innerhalb der Fiktion – plausibilisiert. Nicht aufgeworfen wird allerdings die Frage, warum die Zeitreisen immer genau dann stattfinden (können?), wenn Finn wieder ein Tagebuch zu Ende gelesen hat.

Seine erste Reise führt ihn ins Jahr 2003, bei jeder weiteren Reise sind für Eliane einige Monate oder gar Jahre verstrichen, bis sie schließlich fast sein eigenes Alter erreicht hat. Trotz seiner für Eliana seltenen Besuche zwischen denen für Finn nur einige Wochen liegen, verlieben sie sich ineinander.

Wie sich leicht denken lässt, könnte eine Liebesbeziehung nicht ungleicher ausfallen, ist sie doch von Grund auf hierarchisch organisiert. Finn ist Eliana von Beginn an in jeder Hinsicht überlegen. Er weiß nicht nur um die Zukunft von Elianas Welt, der in anderthalb Jahrzehnten ein Ende bereitet wird. Er liest in ihren Aufzeichnungen, wie sehr sie sich nach ihm sehnt, wie attraktiv sie ihn findet, und kennt auch sonst alle ihre intimsten Geheimnisse, die sie kaum ihrem Tagebuch anvertrauen möchte. Sie hingegen weiß rein gar nichts über ihn, sondern wartet – trotz einer unglücklichen Affäre mit einem reichlich negativ gezeichneten Filmschauspieler – über all die Jahre hinweg nur darauf, dass er sie endlich wieder einmal besucht. Einmal notiert sie denn auch zornig in ihr Tagebuch: „Was ist eigentlich mit dem Scheißtypen los?!?! Was soll die ganze Heimlichtuerei? Er kommt. Er geht. Er ist da. Er ist wieder weg. Das ist frustrierend! So einen Mist muss ich mir nicht gefallen lassen. Ich habe beschlossen, ihn zu vergessen. Punkt Ende. Aus.“ Wie nicht anders zu erwarten vergisst sie ihn keineswegs und lässt sich auch sein Verhalten weiterhin gefallen. Die Absicht der Autorin, Finn vor sich selbst und den Lesenden des Romans zumindest von dem Vorwurf, Elaine warten zu lassen, zu entlasten, ist überdeutlich, wenn sie ihrer Figur in die Feder diktiert: „Ach ich bin viel zu pathetisch. Ich vergeude mein Leben nicht damit, auf ihn zu warten. Ich mache alles, was ein Mädchen heute so macht. Und sogar noch mehr.“ So studiere und praktiziere sie das Kamasutra. „Also bitte, klingt das etwa, als würde ich mein Leben vergeuden?“

Vielleicht soll es ebenfalls zu Finns Entlastung beitragen, dass er gegen Ende seiner Tagebuchlektüre einmal beiläufig darüber reflektiert, dass es eigentlich nicht in Ordnung ist, wenn er die geheimsten Gedanken seiner Geliebten liest. Dazu muss er aber auch mit der Nase darauf gestoßen werden: „Wie peinlich!“ notiert sie einmal, „Ich würde tot umfallen, wenn ich wüsste, dass das jemand gelesen hat. Oder liest.“ Angesichts dieses Eintrags sagt er sich zwar: „Natürlich hatte sie recht. Er durfte ihr Tagebuch eigentlich nicht lesen“ und fühlt sich zu Recht „wie ein Voyeur schlimmster Sorte.“ Das hält ihn aber keineswegs davon ab, eifrig weiter zu lesen. Nicht anders verhält er sich später. Auch als er sich eingesteht: „Elianas intimste Gedanken über mich zu lesen, über uns und unsere Liebesbeziehung, das grenzte an Perversion“, hindert ihn das nicht an der weiteren Lektüre.

Wie Finn nach reichlich Tagebuchlektüre und etlichen Besuchen bei Eliana erkennen muss, ist das ganze Zeitreiseprojekt nur darauf angelegt, dass er und Eliana sich ineinander verlieben. Denn das Experiment dient letztlich dazu, die Fortpflanzungsrate zu erhöhen. Gemeinsam mit dem Olga-Zukova-Institut für Angewandte Physik nimmt die Europäische Bibliothek an dem vom Triple G ausgeschriebenen Hochschulwettbewerb „Fruchtbarkeit Jetzt!“ teil, der „originelle Methoden“ entwickeln sollte, die Geburtenrate anzuheben. Die Annahme der Projektleitung – und zugleich das gewagte Konstrukt des Romans – ist nun, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer Befruchtung erhöht, wenn sich das den Koitus vollziehende Paar liebt. Tatsächlich bestätigt sich diese abstruse These. Die ganze Misere der sinkenden Geburtenrate liegt schlicht daran, „dass uns die Liebe zwischen Mann und Frau – die romantische Liebe, wenn man so will – verlorengegangen ist.“ Denn „die selbstlose, leidenschaftliche Liebe, um genau zu sein“ ist „der Fruchtbarkeit und Reproduktion zuträglich“, wie Finn von der Projektleitung gegen Ende des Romans erläutert bekommt. Dies erinnert fatal an den in früheren Zeiten virulenten Irrglaube, der Orgasmus der Frau sei notwendige Voraussetzung für deren Schwangerschaft, die dann gerne zur ‚Widerlegung‘ von Vergewaltigungsvorwürfen ins Feld geführt wurde. Doch der Roman geht noch einen Schritt weiter, der selbst diese Absurdität übertrifft: Die sich erfüllende Hoffnung der Projektleitung besteht nun nicht nur darin, qua Zeitreisendem „eine Form der romantischen Liebe aus der Vergangenheit in unsere Zeit zu holen“, sondern der „Träger“ dieser Liebe werde zudem „die Menschen hier mit einem, nennen wir es mal ‚Liebeskeim‘ infizieren“, da der menschliche Körper „positiv“ reagiere, „wenn er den starken Emotionen eines anderen Menschen ausgesetzt wird.“ Denn „diese emotionale Energie, insbesondere die Leidenschaft – wir sprechen in dem Zusammenhang von Liebeswellen oder Unduli amoris –, interagieren mit unseren Körpern und wirkt sich förderlich auf die Reproduktion aus.“ Per Virus überträgt der verliebt aus der Vergangenheit zurückkehrende Finn die erhöhte Fruchtbarkeit auf die Menschen seiner Umgebung und rundum werden die Frauen mit denen oder mit deren Männern er zu tun hat, schwanger. Die ironische Wendung ist nun, dass das Projekt dennoch beendet wird, weil ein Konkurrenzunternehmen die Ausschreibung gewonnen hat, dessen Methode der „temporären Uterustransplantationen“ bei Männern sich als kostengünstiger erweist.

Das von Rahlens Roman angestimmte Hohe Lied auf die Liebe klingt angesichts der Apotheose hierarchischer Liebesbeziehungen und der grotesken Konstruktion eines Zusammenhangs zwischen romantischer Liebe und Schwangerschaft reichlich schrill in den Ohren. Dass der eine oder die andere sich von der Lektüre dennoch gut unterhalten fühlen mag, sei ihnen unbestritten.

Titelbild

Holly-Jane Rahlens: Everlasting. Der Mann, der aus der Zeit fiel.
Übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
Wunderlich Verlag, Reinbek 2012.
428 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783805250160

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