Szenen einer vergangenen Kindheit

Über Hinrich von Haarens Roman „Brandhagen. Panorama einer kleinen Gesellschaft“

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieser Roman des relativ unbekannten Autors Hinrich von Haaren, der in der norddeutschen Provinz geboren wurde und heute in London lebt, führt zurück in die 1960er- und 1970er- Jahre, in eben diese Gegend nahe der Nordsee. Beschrieben wird aus der Sicht des Erzählers eine kleine Gesellschaft in dem fiktiven Dorf Brandhagen. Aus den Beschreibungen der Mitglieder seiner Familie und den unmittelbaren Nachbarn entsteht ein faszinierendes Panorama einer Familie und einer Zeit, die heute längst vergangen, aber für den heranwachsenden Erzähler von Bedeutung ist.

Zu Beginn ist der Erzähler etwa vier Jahre und am Ende des Romans dürfte er um die 15 Jahre alt, also im Jugendalter sein. Es ist ein stilles und leises Buch, obwohl es die großen und kleinen Dramen und den beschaulichen Alltag der Familien zum Thema hat. So gibt es das schwarze Schaf in der eigenen Familie, die Tante, die ein uneheliches Kind bekommen hatte und deshalb den Ort verlassen musste; die Dominanz der Mütter und die der Großmütter, was zu Rivalitäten und ewigen Streitereien zwischen den Frauen führt, die Lieblingskinder und die ungeliebten sowie die Zugezogenen, die immer Außenseiter in der kleinen Dorfgemeinschaft bleiben. Es wird berichtet von den allseits bekannten Seitensprüngen der Männer, die nur hinter vorgehaltener Hand kommentiert werden, was jedoch von den Heranwachsenden aufmerksam registriert wird. Aber es gibt auch den Alkoholismus, den Unfall vom Großvater und sogar einen Selbstmord; in diesem kleinen Familienkosmos ist alles vertreten.

Diese Ereignisse werden chronologisch aus dem Blickwinkel des heranwachsenden Kindes mit gelegentlichen Rückgriffen erzählt, das mit naiver Neugier alles aufnimmt und davon geprägt wird. Eine besondere Beziehung entwickelt der Junge zu seiner Großmutter, bei der er sich geborgen und sicher fühlt. Später freundet er sich mit Alexandra an, der Tochter von Tante Alma und Onkel Olaf, die gegenüber wohnen. Zwar gleichaltrig, dominiert Alexandra jedoch den Jungen, was dieser sich auch klaglos gefallen lässt. Dies wird in hinreißenden kleinen Episoden erzählt, so zum Beispiel beim kindlichen Spiel mit dem Kaufladen. Doch dass dies nicht nur kindliches Spiel, sondern vorweggenommene Realität war, wird durch die Entscheidung der Großmutter, Alexandra und nicht der Junge solle einmal das Geschäft übernehmen, konkretisiert. Hier herrscht sie wieder einmal über ihre Schwiegertochter, der sie die Führung des Geschäftes nicht so recht zutraut, obwohl man sich wiederum hinsichtlich der Verkaufsstrategien und Ausgestaltung der Auslagen immer wieder zusammensetzt und auch zusammenfindet.

Einen gravierenden Einschnitt in das Leben des Geschäftshaushalts bedeutete die Ankunft von Erdmute als Haushaltshilfe. Zuerst nur kurzzeitig als Abrundung von Erdmutes Ausbildung auf der Hauswirtschaftsschule geplant, dauert dieser Aufenthalt dann jedoch zehn Jahre. Erdmute wird schnell die von allen geschätzte Person, sogar die sonst so kritische Großmutter schätzt sie als unentbehrliche Kraft. Für den Jungen wird sie nach und nach zur großen Schwester, Respektsperson, Spielkameradin, Vertrauten und heimlich geliebten Person. Umso härter trifft ihn dann die Mitteilung wie ein Verrat, wonach Erdmute nach den zehn Jahren das Haus verlassen wird, um zu heiraten. Aber schon vorher war das Verhältnis durch eine unbedachte jugendliche Tat schwer zerrüttet worden. Er probierte heimlich mit seiner vertrauten Spielkameradin Erdmutes Unterwäsche an und las ihre Briefe. Man näherte sich nach einiger Zeit zwar wieder an, aber das Verhältnis wurde nicht mehr so vertraut wie zu Beginn.

Neben Erdmute kommen noch Pauline von Merk nach Brandhagen, die Tochter der exzentrischen Asta von Merk, einer den Männern zugewandten Person von ungewisser Herkunft und mit einem Faible für französische Literatur: Proust, Voltaire und Stendhal. Schockierend stellt sich dann auch noch heraus, dass Onkel Olaf und sein Sohn Georg ein Verhältnis mit der lebenslustigen Asta hatten. Als Lise, die aus Brandhagen vertriebene Tante, mit der unehelichen Tochter Krystina aus ökonomischer Not ins Dorf zurückkehrt, ist die kleine Runde der Spielkameraden komplett.

Eine weitere Abwechslung für den Jungen sind die Klavierstunden bei Hannah Jennings, die unter dem Beisein ihrer Mutter stattfanden, die diese Stunden als Kaffee- und Lesestunden genoss und ab und an durch Lesungen aus ihrem Buch auflockerte. Auch die nun anstehende Einschulung des Jungen bedeutete zwangsläufig eine Erweiterung des Horizonts bis hin zur bildungsbürgerlichen Kenntnisvermittlung, zumal einige kauzige Lehrergestalten auftreten und humorvoll geschildert werden. All dies wird von dem Jungen als normaler Ablauf einer Entwicklung angenommen, führt zu keiner Rebellion oder Aufbegehren, weder gegen die Autoritäten zu Hause, noch in der Schule oder im Dorf.

Die großen Ereignisse der Außenwelt kommen nur durch Berichte aus den Medien, wie etwa dem Fernsehen oder dem Radio in den Fokus der Dorfbewohner. Neben dem Schock der Heirat und dem Auszug von Erdmute treffen die Familie weitere Schicksalsschläge. Die Großmutter erleidet während der Hochzeit Erdmutes, als sie allein auf ihrem Zimmer ist, einen Schlaganfall, und Tante Lise wird in Hamburg bei einem Ausflug mit ihrer Schwester von einem Auto überfahren. Sie stirbt an den Folgen des Unfalls. Ihre Tochter Krystina, die stets etwas ungewöhnlich und geheimnisvoll wirkt, gehört fortan zur Familie.

Aber der Roman lebt nicht von den großen Szenen oder den kleinen Katastrophen, sondern von den kleinen Alltagsszenen, die liebevoll und sorgsam geschildert werden. Dieses Brandhagen bringt uns die Zeit der 1960er- und 1970er-Jahre auf dem Lande nahe, wo ein scheinbar beschauliches Leben stattfand, ohne die politischen, sozialen oder gesellschaftlichen Veränderungen, wie sie sich in den Großstädten und im ganzen Land abzeichneten oder bereits vollzogen. Dies wird aber nicht als Vorwurf oder Anklage erzählt, sondern schimmert beiläufig durch den Text. Die Sprache, ganz unspektakulär, genau und realistisch, passt zu diesem behutsamen Erzählen. Es durchzieht etwas wie Wehmut diesen Text, ohne dass jedoch nostalgische Gefühle hervorgerufen würden.

Auch wird die Enge oder das Provinzielle in Brandhagen durch die Besuche und Berichte von Alexandra, die in Hamburg in die Lehre geht, durchaus thematisiert. Es sind die individuellen Schicksale und unverwechselbaren Charaktere und die besondere Atmosphäre, die der Erzähler geschaffen hat, die diesen Roman auszeichnen. Man spürt die Sympathie des Autors mit seinen Figuren, die dem Leser als authentische Figuren gezeigt werden. Dieser unspektakuläre Roman ist nur zu empfehlen, für die einen zur Erinnerung an eine selbst erlebte Zeit, für die anderen als elegische Beschreibung einer vergangenen Welt.

Titelbild

Hinrich von Haaren: Brandhagen. Panorama einer kleinen Gesellschaft.
Luftschacht Verlag, Wien 2012.
293 Seiten, 22,40 EUR.
ISBN-13: 9783902373946

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