Frühe Zivilisationskritik

Thomas Noll, Urte Stobbe und Christian Scholl haben den Band „Landschaft um 1800. Aspekte der Wahrnehmung in Kunst, Literatur, Musik und Naturwissenschaft“ herausgegeben

Von Stefanie LeibetsederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Leibetseder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Aufsatzband entstand aus einer Vortragsreihe, die im Wintersemester 2009/2010 an der Georg-August-Universität Göttingen stattfand. Die Beiträge stammen ausnahmslos von ausgewiesenen Experten ihres jeweiligen Fachgebietes und bewegen sich durchweg auf einem hohen sprachlichen und reflexiven Niveau der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Forschungsgegenstand, der immer am konkreten Objekt erörtert wird. Trotz der Vielfalt vertretener geisteswissenschaftlicher Fächer ziehen sich die großen Leitlinien der Auseinandersetzung mit dem Landschaftsbegriff in der Zeit um 1800 wie ein roter Faden durch das Buch und verleihen diesem eine große inhaltliche Dichte und Kongruenz.

Einen der Schwerpunkte des vorliegenden Buches bildet die Auseinandersetzung mit der Landschaftsmalerei. Diese wird in Theorie und Praxis dargestellt. Zunächst wird gezeigt, wie sie in der Hierarchie der Gattungen gemeinsam mit dem Historienbild aufsteigt und durch die Ausstattung der jeweiligen Szenerien mit Motiven aus Historie, Mythologie und Dichtung inhaltlich aufgewertet wird. Nun wird anhand von Vergleichen ähnlicher Bildkompositionen bei Caspar David Friedrich und seinem Schüler Carl Gustav Carus untersucht, wie Letzterer sich allmählich von der transzendental aufgeladenen Landschaftsdarstellung seines Lehrers zugunsten einer naturwissenschaftlich fundierten Darstellungsweise löste. Als inhaltlicher Höhepunkt des Buches muss jedoch die Erörterung des politischen Kontextes von Carl Rottmanns Griechenland-Zyklus gelten. Dem Autor gelingt es auf einzigartige Weise zu veranschaulichen, wie diese zur politischen Legitimation des neu gekrönten griechischen Königs aus dem Haus Wittelsbach in Auftrag gegebenen Werke sich durch ihr ästhetisches Potential weit darüber hinaus erheben und den Maler künstlerisch auf einem gemeinsamen Niveau mit den Meistern der zeitgenössischen französischen und englischen Malerei zeigen. Besonders wenn es um ein Schlüsselbild des Zyklus wie Rottmanns Marathon-Gemälde geht, vermisst man aber auch ein paar gut ausgewählte Farbabbildungen: der einzige Wermutstropfen in dem vorliegenden Buch.

Ein zweiter Themenkomplex des Bandes ist der Beziehung zwischen Landschaftsmalerei und der Wahrnehmung von Landschaftsgärten des englischen Typus’ in der zeitgenössischen Reise- und Gartenliteratur gewidmet. Exemplarisch für die Rezeption des englischen Landschaftsgartens steht in Deutschland das Wörlitzer Gartenreich, dessen Charakter als ökonomisch genutzte Naturlandschaft hier auch zur Sprache gebracht wird.

Weitere Beiträge gruppieren sich um die Reflexion und Rezeption der Landschaft in literarischen Werken  Johann Wolfgang von Goethes und denen anderer namhafter Schriftsteller. Die von Edmund Burke in Gang gesetzte Diskussion des Erhabenen ist um 1800 noch voll im Gange. Mit ihr hängt bekanntlich die besondere Faszination der Maler und Dichter für die Gebirgslandschaft der Alpen zusammen. Diese weckten auch das zunehmende Interesse der Zeitgenossen an der Geologie, wie es von Goethe bekannt ist. Bei ihm steht es allerdings auch in engem Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit.

Ein anderer wichtiger Aspekt der Diskussion des Landschaftsbegriffs ist darin zu erkennen, dass die menschenfeindlichen Naturgegebenheiten der Hochgebirgsräume als idealer Gegensatz zur stadträumlichen Lebensweise gesetzt und somit zum Ausgangspunkt einer frühen Zivilisationskritik genommen wurden. Diese schlug sich unter anderem in der zeitgenössischen Schottlandbegeisterung nieder. Zeitgenössische Schriften beweisen, welchen Wandlungen das Bild der gebirgigen Highlands und ihrer Bewohner im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in den Augen englischer und deutscher Reisender unterlag. Wurde die schottische Landschaft eingangs zunächst als karg und öde und die dort lebenden Schotten wegen der als unzivilisiert geltenden gälischen Sprache als rückständig betrachtet, so änderte sich dies als der Begriff des Pittoresken in die ästhetische Debatte Einzug hielt. Literarisch wurde das Schottland-Erlebnis von nun an positiv mit germanischen Mythen aufgeladen, angefangen mit den – gefälschten – Heldensagen MacPhersons mit dem Titel „Ossian“. Dies steht in engem Zusammenhang mit der europaweiten Besinnung auf nationale Gründungsmythen als Versuch der Neubestimmung und Identitätsfindung in der Zeit nach den napoleonischen Befreiungskriegen.

Titelbild

Thomas Noll / Urte Stobbe / Christian Scholl (Hg.): Landschaft um 1800. Aspekte der Wahrnehmung in Kunst, Literatur, Musik und Naturwissenschaft.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
360 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835310551

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