Dunkles Kaleidoskop von Traumvisionen

Juan Goytisolos Roman „Reise zum Vogel Simurgh“ bietet die ästhetische Erfahrung einer alptraumhaften Reise

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich auf die „Reise zum Vogel Simurgh“ begibt, sollte nicht erwarten, einen klassischen Roman mit einem leicht zu verstehenden oder wenigstens deutlich zu erkennenden Handlungsstrang in den Händen zu halten. Juan Goytisolos Roman ist ein Kaleidoskop, eine Bilderfolge, eine albtraumhafte Reise durch nicht eindeutig zu lokalisierende Landschaften und verschwommene Traumhandlungen. Die „Reise zum Vogel Simurgh“ ist dabei gleichzeitig harte Kritik an der Gesellschaft nach der nuklearen Katastrophe von Tschernobyl und eine sich ständig wandelnde Provokation an der sanften Schwelle ekstatischer Trunkenheit, die den Erzähler immer wieder umfängt und die er selbst als „Andeutung der Vernichtung als obsessives Leitmotiv, ein schleichendes Crescendo bis zum Höhepunkt“ bezeichnet, während er künstlich im Schlaf gehalten wird. Dabei gibt es nicht nur einen, sondern mindestens zwei Erzähler: einen Gefangenen in Juan de la Cruz’ Zelle im Klostergefängnis in Toledo und eine Person in einer psychiatrischen Klinik, die in Erinnerungen an Erinnerungen lebt – „verwirrt, ängstlich das Kopfkissen umklammernd“. Spricht ein Mann oder eine Frau? In welcher Zeit befinden wir uns? Es hebt sich der Vorhang für eine ekstatische Gedankenreise auf der Suche nach der „feurigen Wirklichkeit des Kerns“ und „Ströme göttlichen Balsams“ zwischen Fieberschüben und Traumvisionen.

Auf die Geräusche auf dem Gang vor seiner Zelle horchend sucht der Gefangene nach dem „eindeutigen Sinn von zwangsläufig mehrdeutigen, enigmatischen Versen und omnivalenten Metaphern“, während draußen ein Seminarist in eine hermeneutische Auseinandersetzung mit einem Arabischdozenten verstrickt ist. Der Patient versucht sich an seinen Unfall zu erinnern, inmitten von „verhärmten, kranken, ideologisch verstrahlten Forschern“. Alles löst sich auf und stürzt neu geordnet wieder zusammen.

Das Vermengen von Räumen, Zeiten, Themen und Personen versperrt den Weg zur dogmatischen und nach Goytisolo stark einschränkenden Deutung. Die Figurenkonstellation und die Raumsemantik geraten zu einem symbolistisch überladenen Wachtraum, dessen Dunkelheit bedrückend ist. „Die vielschichtige Sprache und unendlichen Bedeutungsmöglichkeiten Ihrer Verse machen sie ratlos“, wähnt die die Erzählung stützende und sich immer wieder wandelnde, fiebernde Person mitten im Roman.

Goytisolo stellte seinem Text daher einen Epilog nach, der zur metatextologischen Interpretation seines Romans geriet. In diesem Nachwort behauptet der Autor, die höllischen Lagerszenen seien eine Beschreibung der Dissidenten-Verfolgung in Kuba, ein Vergleich mit dem Kampf gegen Homosexuelle. Die Krankheit des Patienten könne auf Goytisolos eigene Angst vor einer HIV-Infektion zurückgeführt werden. Doch der vom Text ausgehende Wahrheitsgehalt ist im Nachhinein nicht korrigierbar, vieles findet sich im Text nicht wieder. Das Nachwort des Autors wirkt wie eine Vorsichtsmaßnahme. Das den Roman durchziehende Thema der Ansteckung bezieht sich auf den schmalen Grat zur Geisteskrankheit – und nicht nur auf die sich als „mysteriöse Plage“ ausbreitende Homosexualität und die damit einher gehende AIDS-Epidemie. Erst die Krankheit erlaubt schließlich die Auflösung der Grenze der Vergänglichkeit und der Wirklichkeit, indem Medikamente konsumiert werden und Traumwelten die Herrschaft übernehmen. Ja, sogar die Grenze der Persönlichkeit wird aufgegeben („Ihr Plural erstaunt mich, soweit ich weiß, sind Sie in niemandes Begleitung“). Damit droht letztlich die Aufgabe des Verstandes. Hier streckt auch Goytisolo die Waffen und lässt die Frage offen, an welcher mysteriöser Krankheit die proteische Person leidet, die im Klostergefängnis sitzt: „Nukleare Verstrahlung? Erworbenes Immunschwächesyndrom? Vergiftung durch verbotene Lektüren?“

Die Offenheit der Handlung und der Form – Sätze erstrecken sich über halbe Seiten, Punkte gibt es im Roman nicht – sprengt Grenzen und schafft einen luftleeren Freiraum, in dem die Bilder des Romans zu schweben scheinen. Geradezu übernatürlich mutet der Flug an, auf dem uns Goytisolo mitnimmt – auf dem Weg zu Simurgh, dem persischen Schutzvogel. Simurghs Nest liegt der iranischen Mythologie zufolge im Zentrum von Wahrheit und Selbsterkenntnis, auf dem Weg zu diesem Zentrum befindet sich der Roman, an der Grenze des menschlichen Verstandes.

Juan Goytisolos Bücher erscheinen seit Jahrzehnten im Suhrkamp Verlag. Diese Autorentreue entspricht ganz der Philosophie des vor zehn Jahren verstorbenen Verlegers Siegfried Unseld. Ob sich jedoch bei der Veröffentlichung der „Reise zum Vogel Simurgh“ das Niveau auszahlt und das rätselhafte Experiment viele Leser findet, ist zu bezweifeln. Dem Verlag wird dies bewusst sein, ihm darf daher gedankt werden, dass ein solch schwieriger Text beinahe 25 Jahre nach dessen Erstauflage nun in deutscher Sprache erscheinen darf. Denn die „Reise zum Vogel Simurgh“ ist eine unvergleichliche ästhetische Erfahrung. Es schwindelt den Leser vor dem Abgrund der Seele, der sich schemenhaft offenbart. Doch die zwischen Qualen und Entsetzen aufkommende Harmonie, die vom Patienten als „diffuse, entrückte Seligkeit“ bezeichnet wird, lohnt das Experiment des Lesens. Die „Reise zum Vogel Simurgh“ ist ein gefährlich dunkel leuchtendes, radikales Werk der Mystik. Es verdient Beachtung.

Titelbild

Juan Goytisolo: Reise zum Vogel Simurgh. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Thomas Brovot.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
200 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422519

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