Literatur sehen lernen

In ihrem Sammelband „Wort-Räume. Zeichen-Wechsel. Augen-Poesie“ untersuchen Sonja Vandenrath und Anne Bohnenkamp Theorie und Praxis von Literaturausstellungen

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kritiker halten dem Boom der Literaturausstellungen entgegen, er sei Ausdruck einer ‚Eventisierung‘ des Literaturbetriebs. Das Spektrum heutiger Ausstellungspraxis reiche von der klassischen Vitrinen- bis hin zur opulenten Multimediaschau, das gedruckte Wort sei dabei auf der Strecke geblieben. Zugleich würde er zu einer Verflachung sowie einem Verlust an Inhalten führen, da der dokumentierte Erkenntniswert sehr gering sei und höchstens einem zweifelhaften Autorenkult Vorschub leiste. Diese Haltung gegenüber Ausstellungen zur „Flachware Buch“ steht in einem Umfeld, das die Musealisierbarkeit von Literatur grundsätzlich anzweifelt: Jede Beschäftigung mit fiktionalen Texten müsse konstatieren, dass es sich bei ihnen um sprachliche Kunstwerke handle, die ausschließlich durch den Akt des Lesens rezipiert würden. Dies sei ein flüchtiger und individueller Vorgang. Eine Ausstellbarkeit dieses Rezeptionsaktes sei per se zu negieren, da Leseerfahrungen nur schwerlich mit Mitteln der Architektur oder Inszenierung einzufangen seien.

Jedoch zeigt der reich bebilderte und sehr ausgewogen konzipierte Sammelband „Wort-Räume. Zeichen-Wechsel. Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen“, dass eben solche visuell-räumlichen Inszenierungen von Literatur großes Potenzial in unserer Mediengesellschaft besitzen. Unter Würdigung der normativen Kraft des Faktischen, dass Literaturhäuser, Archive und Bibliotheken zunehmend auf Ausstellungen als Medium der Präsentation literarischer Texte und ihrer Kontexte setzen, suchen die Herausgeberinnen Anne Bohnenkamp und Sonja Vandenrath in drei Sequenzen das weitgehend neue Forschungsfeld der Literaturausstellungen zu erschließen. In einem ersten theoretischen Teil analysieren namhafte Experten in acht Aufsätzen das Phänomen „Literaturausstellung“ unter kultur-, literatur- und medienwissenschaftlichen Fragestellungen. Daran schließen sich neun „best practice“-Beispiele an sowie sieben Beiträge über ein metareflexives Ausstellungsdesign zu Goethes „Wilhelm Meister“ im Frankfurter Goethe-Haus, das experimentellen Charakter hatte.

Die beiden Herausgeberinnen legen zunächst in ihrer Einführung dar, welche grundsätzliche Spannung zwischen der Literatur als Medium und der Literaturausstellung als boomender Praxis besteht. Sie vertreten die These, dass der Umgang mit sprachlichen Kunstwerken „nicht auf die einsame und stumme Buchlektüre beschränkt“ bleiben müsse. Vielmehr eröffneten gerade Literaturausstellungen im Zeitalter tiefgreifender sozialer wie medialer Umwälzungen neue Wahrnehmungsperspektiven sowohl von der literarischen Produktions- als auch Rezeptionsforschung. In einem Grundsatzbeitrag reflektiert der Kasseler Germanist Peter Seibert die historische Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert: Er gelangt nach einer Musterung der Wandlungen von literarischen Gedenkstätten zu Literaturmuseen und der ausführlichen Würdigung der Erinnerungskulturen in Ost- und Westdeutschland zu dem Fazit, dass das neue Erkenntnisinteresse an Ausstellungen und Musealisierbarkeit von Literatur selbstreferentiell auf den Wandel von der Literatur- zur Kulturwissenschaft verweise.

Dem widerspricht in nuce der Regensburger Medienwissenschaftler Bernhard Dotzler. Er konstatiert hingegen: „Literaturausstellungen stellen alles Mögliche aus, nur eines gewiss nicht: Literatur – und was stattdessen, das genau ist ihre Herausforderung.“ Konkreter wird hingegen der Gießener Forscher Uwe Wirth. Unter Rückgriff auf semantische Überlegungen zu „Metamuseum“ und „Indexikalität“ gelangt er zu der These, dass Literaturausstellungen primär durch „die performative Dimension des Ausstellens“ funktionalisiert werden können: „Vielleicht ist eine Literaturausstellung eine Art von Schau-Philologie, in der Performance-Akte der Textwerdung durch das Präsentieren von Avant-Texten, Epitexten und Texten in (aufgeschlagenen) Büchern vorgeführt, sprich: vorgezeigt werden.“

Nach Einordnungen und Reflektionen zum aktuellen Forschungsstand über das Verhältnis von Literaturausstellung und Kulturbetrieb durch Erhard Schütz sowie intermedialen Überlegungen zum Verhältnis von Wort und Bild bei Museumsbesuchen durch Sonja Vandenrath zeigen sich besonders in den Beiträgen von Christian Metz, Heike Gfrereis und Ulrich Raulff die Entwicklungspotenziale einer „Semiologie“, „Narratologie“ und „Hermeneutik“ der Literaturausstellung.

Der Frankfurter Wissenschaftler Metz skizziert ein Modell „wilder Lektüre“, das die Besucherperspektive in die Ausstellungstheorie einbringt. Unter Rückgriff auf Roland Barthes’ Terminus eines „sekundären semiologischen Systems“ postuliert er, dass Literaturschauen Mythen über Literatur konstruieren, indem sie die Besucher mit der „Aura“ von Exponaten konfrontieren. Das „Lustpotential literarischer Ausstellungen“ liege also gerade in dem Akt des Staunens, welcher sich nach dem Schauen, Lesen und Verstehen einstelle. Insofern sei der Besuch einer Literaturausstellung keine rezeptive Ersatzhandlung, sondern wecke Lust auf Lektüre, indem sie neue Geschichten „erzähle“.

Gleichfalls aus der Perspektive der praxeologisch versierten Wissenschaftler nähern sich Heike Gfrereis und Ulrich Raulff, Verantwortliche im Deutschen Literaturarchiv Marbach, dem Erkenntniswert von (literarisch-) kultureller Bildung: Eine Literaturexposition arbeitet nach ihren Ausführungen „an der Schnittstelle von Sehen und Lesen, Begreifen und Erkennen und fordert, weil sie zum Erkennen durch Sehen zwingt, das Ausprobieren neuer Methoden des Verstehens und Darstellens“. Aus kuratorisch-künstlerischer Sicht rundet der Beitrag von Sabiene Autsch den Theorieteil ab. Sie exemplifiziert anhand der Ausstellung „Deutsche Grammatik“ des Schweizer Künstlers Christoph Büchel – 2008 in der Kunsthalle Fridericianum in Kassel zu sehen –, der Ausstellung „buch der wörter/books of words: random reading“ von Ecke Bonk (2002, Kassel) und Hanne Darbovens „Kontrabass – solo“ sowie Victor Grippos „Mesas de trabajo y reflexion“ den Inszenierungscharakter von Literatur in Ausstellungen.

Im umfangreichen Praxisteil mit neun Aufsätzen präsentieren Kuratoren und Designer Beispiele für wegweisende und paradigmatische Literaturausstellungen der letzten Jahre. Dazu zählen beispielsweise Ausführungen zu „James Joyce and Ulysses“ (Dublin 2004), „Life and Works of William Butler Yeats“ (Dublin 2006-2010), „Sigmund Freud“ (Berlin 2006), „Arno Schmidt“ (Marbach 2006), „Robert Walser“ (Frankfurt 2006) oder „Arthur Schnitzler“ (Wien 2006-2007). Dank einer präzisen Illustration und fundierten Deskription der jeweiligen Ausstellungskonzeption werden die Konstruktion sowie ästhetische Wirkungsdimension stringent dargelegt.

Der dritte Teil des Sammelbandes beinhaltet die ausführliche Darstellung und Reflexion eines expositorischen Experiments: „Das Ziel war eine Ausstellung über das Literatur-Ausstellen, realisiert werden sollte das Experiment einer Meta-Ausstellung.“ Sicherlich ist in diesem – knappsten – Teil des Bandes der innovative Kern des Gesamtprojektes zu sehen. Nicht nur praktische Einzelbeispiele mit mehr oder minder erfolgreichen Einzelausstellungen, sondern konzipiert als „Beitrag zur Fachdiskussion, auf welche Weise sich Literatur in den Raum einer Ausstellung ‚übersetzen’ lässt“, findet der Leser zahlreiche anregende Materialien. Flankiert von einer wissenschaftlichen Tagung samt Workshop, die 2008 vom Frankfurter Goethe-Haus in Kooperation mit zahlreichen finanzkräftigen Partnern durchgeführt wurde, zeigt sich die Pluralität des Ausstellungsdesigns. Für die sogenannte Meta-Ausstellung haben daher auch sechs Teams aus Kuratoren und Gestaltern Konzepte entwickelt, wie Goethes Roman „Wilhelm Meister“ im Ausstellungsraum zu verorten und zu inszenieren ist. Bereits die thematischen Labels der diversen Konzepte zeigen die grundsätzliche Offenheit von Literatur-Ausstellungen: von „RaumErkundungen“ über „Figurenspiele“ bis hin zu „SatzBaukunst“ reichen die detailliert vorgestellten Konfigurationen.

Abgerundet wird der Band durch ein knappes Literaturverzeichnis, das eine „Zusammenstellung einschlägiger Titel zum Thema“ enthält und den wissenschaftlichen Gebrauchswert erhöht. Insgesamt zeigt sich der Sammelband weitgehend methodisch versiert aufgebaut, er wirkt fachlich solide konzipiert und kann für die zukünftige kultur- und medienwissenschaftliche Forschung als wichtiger Referenzpunkt gelten. Darüber hinaus lädt er durch das gekonnte Layout und die Vielfalt der Materialien zu einem Innehalten und konzentriertem Lesen ein. Abschließend zeigt sich, dass das Anliegen der Herausgeberinnen, „neues Potenzial zur Vermittlung und zur Erforschung, ja zur Produktion von Literatur zu entfalten“, gänzlich realisiert wurde.

Titelbild

Anne Bohnenkamp / Sonja Vandenrath (Hg.): Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
350 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835307964

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