Der Euro als Bremser und Spalter

Thilo Sarrazin legt eine ernüchternde Bilanz der europäischen Gemeinschaftswährung vor

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angesichts der sich stetig verschärfenden europäischen Schuldenkrise fordern Wallstreet-Kapitalisten, neoliberale US-Ökonomen und sogar Teile der deutschen Linken unisono den Ausbau des Euros zu einer Transfer- und Haftungsunion. Wenn nun eine so heterogene Koalition aus Banken und Sozialisten, ganz zu schweigen von den Brüsseler Eurokraten, eine Weiterentwicklung des Euros in Richtung auf eine Verschuldungsgemeinschaft propagiert, kann der geforderte Kurs doch nicht ganz falsch sein.

So könnte man meinen, zumal wenn sich jetzt auch noch eine Hassfigur der Linken und persona ingrata der hiesigen politischen Klasse kritisch dazu äußert und sogar im Titel seines Buches frei heraus erklärt, dass Europa den Euro überhaupt nicht brauche. Als Mahner in der Wüste scheint sich das ehemalige Vorstandsmitglied der Bundesbank, Thilo Sarrazin, recht wohl zu fühlen. Schon sein Buch über die Fehlentwicklungen der Immigration in Deutschland erregte vor zwei Jahren viele Gemüter und rief vor allem wegen seiner eigentümlichen Einlassungen zur Abstammungslehre massive Zweifel an seiner Kompetenz hervor.

Doch wenn sich der ehemaligen Berliner Finanzsenator zur Genese und Fortentwicklung der europäischen Währungsunion äußert, kämpft er als alter Fahrensmann der Währungspolitik in heimischen Gewässern. Noch in seinem ersten Buch über den Euro 1996 hatte sich Sarrazin vorsichtig optimistisch über die Zukunft der Währungsunion geäußert, da es damals so schien, als schlösse der Maastricht-Vertrag ganz in der stabilitätsorientierten Tradition der Bundesbank eine gemeinsame Haftung aller Mitgliedsstaaten für einzelne Volkswirtschaften (No bail-out) ebenso aus wie die Monetarisierung von Staatsschulden (vulgo: Druckerpresse).

Diese Hoffnungen sieht Sarrazin inzwischen auf dem Müllhaufen der Geschichte begraben, nachdem schon im Mai 2010 die Europäische Zentralbank (EZB) begonnen hatte, zur Kursstützung in großen Mengen Euro-Anleihen notleidender Mitgliedsländer aufzukaufen. Inzwischen summieren sich ihre Bestände auf 207 Mrd. Euro, davon stammen gut die Hälfte der Staatsanleihen aus Griechenland. Sollte die EZB irgendwann einmal gezwungen sein, diese Junkbonds zu ihrem echten Wert zu bilanzieren, wäre ihr Grundkapital von 85 Mrd. Euro bereits zweimal verzehrt und Deutschland müsste mit einem Anteil von mindestens 27 Prozent neues Kapitel nachschießen. Wäre sogar die Bundesbank einmal genötigt, ihre Target-2-Salden mit den Zentralbanken einiger notleidender Euromitgliedsstaaten in aktueller nomineller Höhe von 550 Mrd. Euro mit deren tatsächlichen Werten zu bilanzieren, wäre hier ebenfalls das Grundkapital der deutschen Währungshüter verbraucht und eine offene Positionen von über 400 Mrd. Euro müsste – statt des bisher gewohnten satten Bundesbankgewinns – in den Bundeshaushalt eingebucht werden.

Ganz ohne Sorge sieht Bundesbankchef Jens Weidmann diese Entwicklung inzwischen nicht mehr, zumal sich die Notenbanken der Krisenländer weiterhin dieses bequemen Instruments zur Finanzierung ihrer klaffenden Leistungsbilanzdefizite eifrig bedienen. Das Saldo wächst derzeit pro Jahr um 200 Mrd. Euro! Gleichzeitig aber legten die Europäischen Währungshüter auch noch den Interbankenmarkt praktisch lahm, indem sie den europäischen Finanzinstituten massenhaft billiges Geld (1 Bio. Euro zu 1 %) unter Verzicht auf ausreichende Sicherheiten zum Aufkauf weiterer Schuldentitel zur Verfügung stellten. Wenn auch damit die Vereinbarungen von Maastricht formal noch eingehalten scheinen, da die EZB eben bis dato keine direkte Monetarisierung von Staatsschulden betreibe, so sieht Sarrazin sie inhaltlich bereits ausgehebelt. Die inflationären Folgen dieser bemerkenswerten Abkehr vom einstigen Stabilitätsschwur würden augenblicklich noch durch kostengünstige Importe aus den ehemaligen Schwellenländern gedämpft. Tatsächlich stieg der Anteil deutscher Importe aus dem außereuropäischen Raum innerhalb der letzten zehn Jahre von 38 auf 44 %, Importe aus dem Euroraum fielen dagegen von 45 auf 37 %.

Auch die angestrebte Fiskalunion mit zentralen Kontrollfunktionen gegenüber notleidenden nationalen Haushalten sieht Sarrazin auf der Grundlage der bisherigen Erfahrungen kritisch. Souveräne Staaten könnten eben nicht, so der Verfasser, durch bloße Paragrafen zur Haushaltsdisziplin angehalten werden, zumal das so genannte Stabilitätsvorbild Deutschland selbst 2003 als erstes Mitgliedsland der Währungsunion die Maastrichtkriterien verfehlt und zusammen mit Frankreich die automatisch drohende Sanktion hintertrieben hatte. Nationale Volkswirtschaften beruhen auf jeweils eigentümlichen Prägungen und Strukturen, die in Jahrzehnten gewachsen sind und nicht durch die bloße Annahme einer neuen Währung geändert werden können. Ihre Veränderung, wenn sie denn tatsächlich, wie etwa im Falle Griechenlands dringend erwünscht erscheinen, benötigen Jahre und verzögerten sich, so Sarrazin, durch weitere Transferleistungen der Staatengemeinschaft nur unnötig.

Anhand von umfangreichem Datenmaterial versucht der Verfasser zu belegen, dass gerade die grundsätzliche Möglichkeit einer Insolvenz (ohne die Haftung einer übergeordneten Instanz) historisch stets zu mehr Haushaltsdisziplin und zu einer signifikant niedrigeren Verschuldung geführt habe. Als Beispiele nennt er die von ihm besonders geschätzte Schweiz und die Vereinigten Staaten. Gerade letztere werden ja von den Protagonisten eines vereinigten Europas gerne als Vorbild genannt, doch eine Bundeshaftung für die Schulden einzelner Staaten ist dort nicht vorgesehen. Süffisant bemerkt Sarrazin hierzu, dass Präsident Obama wegen des chronisch notleidenden Haushalts des Sonnenstaates Kalifornien bisher wohl kaum eine schlaflose Nacht verbracht habe. Könne dies aber die Bundeskanzlerin im Hinblick auf Griechenland, Spanien und Italien ebenfalls von sich behaupten?

Dass Volkswirtschaften eine eigene Währung brauchen wie die Luft zum Atmen, um vorrübergehende Ungleichgewichte etwa bei Inflation, Arbeitslosigkeit oder Produktivität auszugleichen, sollte gerade den Deutschen seit der Währungsunion von 1990 noch in fataler Erinnerung geblieben sein. Bis auf geringe Reste wurde damals die DDR-Wirtschaft zertrümmert, da sie auf einen Schlag bei erheblich geringerer Produktivität ihre Exporte in die traditionellen Absatzmärkte Osteuropas in DM faktorieren musste. Nicht ganz so dramatisch ist seit Beginn der europäischen Währungsunion die Entwicklung bei den so genannten Südländern verlaufen. Deren Exporte in die wirtschaftlich robusteren Nordländer haben sich aber seither durch die Faktorierung in Euro nach derselben Mechanik deutlich verteuert, so dass deutsche Unternehmen schließlich produktiveren Zulieferern aus Ostasien den Verzog gegeben haben.

Der deutsche Handel mit dem außereuropäischen Raum ist dadurch seit 2000 sogar um 154 % gestiegen, mit den europäischen Nichteuroländern immerhin noch um 114 %. Dagegen sieht die Bilanz im Euroraum mit nur 89 % Steigerung eher bescheiden aus. Nach einer Intensivierung des innereuropäischen Handels, wie von den Protagonisten des Euro gerne behauptet, klingt das offenbar nicht, zumal die Arbeitskosten seit 2000 in den Südländern auf Grund der günstigen Verschuldungsmöglichkeiten im Euro-Raum gegenüber Deutschland (+2 %) und der außereuropäischen Konkurrenz in Einzelfällen um bis zu 64 % emporgeschnellt sind.

Ob nun Deutschland, wie vielfach noch von Euro-Apologeten dagegen gehalten wird, bisher vom Euro profitiert hat oder eben auch nicht, der politische Schaden der Gemeinschaftswährung erscheint Sarrazin noch erheblich größer als der ökonomische. Dabei war der Euro von Anfang an ein politisches Projekt gewesen, der das Zusammenwachsen der europäischen Staaten beschleunigen sollte. Die gemeinsame Währung sollte der politischen Union den Weg bereiten. Bei nüchterner Betrachtung ist jedoch das längst Gegenteil der europäischen Blütenträume von Altkanzler Kohl und seinem damaligen Innerminister Schäuble eingetreten. Tiefe Gräben sind plötzlich zwischen scheinbar befreundeten Nationen aufgerissen und der Erpressungsversuch der drei Regierungschefs von Frankreich, Italien und Spanien auf dem letzten EU-Gipfel Ende Juni 2012 war wohl mehr als nur ein Verstoß gegen die Brüsseler Etikette.

Obwohl Sarrazin wiederholt einem alten Europa der Staatenindividualität nachtrauert und das bis 1998 vorherrschende EWS-System in nostalgischen Tönen beschreibt, plädiert er gleichwohl für eine Fortsetzung der Währungsgemeinschaft unter allerdings erneuerten Maastrichter Vorzeichen. Allenfalls empfiehlt er das Ausscheiden von Griechenland, das nach menschlichem Ermessen einen erneuten Staatsbankrott nicht mehr verhindern könne. Ob aber nun mit oder ohne Griechenland: Der Euroexpress dürfte definitiv zum Stehen gekommen sein. Der Mythos „Euro“ ist entzaubert. Keiner der verbliebenen sieben Beitrittskandidaten, ganz zu schweigen von Großbritannien, Schweden und Dänemark, dürfte ein Interesse daran haben, mit ihren mühsam sanierten Volkswirtschaften einer inzwischen vom „Club Med“ dominierten Schuldenunion mit unbegrenzter Haftung beizutreten. Selbst wenn Polens oder Tschechiens Politiker dies aus einer Art Solidarität mit der politischen Klasse Europas anstrebten, ihre Völker würden sie dafür lynchen.

Titelbild

Thilo Sarrazin: Europa braucht den Euro nicht. Wie uns politisches Wunschdenken in die Krise geführt hat.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012.
462 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783421045621

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