Weltgesichtigkeit

Der englische Germanist David Scrase hat die erste Biografie über den Naturlyriker Wilhelm Lehmann verfasst

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Konflikten kann man so oder so umgehen. Der Dichter und Lehrer Wilhelm Lehmann zog es stets vor, sich in die Natur abzusetzen. Egal, ob es um Eheprobleme oder gesellschaftliche Zumutungen wie Weltkriege ging – Lehmann interessierte sich zeitlebens mehr für das Treiben von Bluthänflingen oder die verlorenen Haarbüschel von sich paarenden Hasen. So auch an jenem Januartag 1915, als die Angst, einberufen zu werden, den Lehrer in die Wälder trieb.

„Heute Nachmittag […], als ich durch den Schnee nach der Rodelbahn in den Meuraweg ging, sah ich bald – unversehends – von links nach den Eichengebüschhängen hinauf einen – Fuchs laufen; schien schwereres dunkelschwarzbraunes Tier zu sein, schnaufte auf dem Boden. Ich suchte nach seinen Spuren, er ist ganz vom Rohrbach […] heraufgekommen, […] Spuren schön sichtbar. An [einer] kleine[n] Tanne nahe Rodelbahnlichtung fand ich seinen Harn, den ich, da vereist, in [ein] Taschentuch nahm, köstlicher herb-süßer Geruch; dann ging ich die Spur nochmal zurück. […] Wunderschöne weiße ruhevolle Schneelandschaft. – Schrieb weiter [langsam] am ‚Feigling‘.“

Als Lehmann 1918 tatsächlich noch an die Front musste, beging der überzeugte Pazifist im Chaos vor Verdun Fahnenflucht. Doch lief er nicht wie erhofft dem Gegner, sondern deutschen Truppen in die Arme. Hätte man nicht längst jeden Mann gebraucht, wäre Lehmann vermutlich hingerichtet worden, so aber schickte man ihn erneut ins Gemetzel – wo er sich sogleich wieder absetzte, nur diesmal mit Erfolg. Nach dem Krieg verarbeitete Lehmann diese Erlebnisse in seinem Roman „Der Überläufer“. Verlegern wie Samuel Fischer erschien das Werk zu „unpatriotisch“, weshalb es jahrzehntelang ungedruckt blieb. Für den Lehmann-Biografen David Scrase war die Fahnenflucht von Autor und Figur jedoch „weniger eine vor nationaler Verantwortung als ein Desertieren weg von seinen kriegführenden Mitmenschen hin zur Natur“. Ein einsames Schneeglöckchen in einer Fleischdose spendete dem Dichter in kanadischer Kriegsgefangenschaft nicht nur Trost, es symbolisierte für ihn auch die siegreiche Wiederaufstehung der Natur.

Auch die Protagonisten der frühen Romane und Erzählungen Lehmanns fühlen sich bedrängt von der Zivilisation und der fortschreitenden Abstraktion, resümiert der englische Germanist. Sie suchen die in der Moderne verlorene Einheit in der schaffenden Natur, die für Sinnlichkeit und Konkretheit steht – und die den Menschen eigentlich gar nicht braucht.

„Ein Interesse an der offenkundigen Selbstgenügsamkeit der Natur unter Ausschluß des Menschen tritt [bereits] in [Lehmanns frühem] Tagebuch […] zu Tage: ‚Der rote Sauerampfer wächst allein, jeder aber wird befruchtet und Wind und Regen und Sonne verkehren leidenschaftlich mit ihm. Ja, ja!‘ Es gibt später kaum ein einziges Gedicht, das diese Vorstellung nicht implizit zur inhaltlichen Grundlage hat. Und nicht unverbunden mit dieser Idee der vereinigten Natur ist sein Wissen um den eigenen Ausschluß […] von jeder Art Vereinigungsmythos. […] Die entscheidende Rolle, die die Natur in seinem späteren Werk spielen sollte, tritt schon klar zutage: sie sollte das ideale, aber verlorene Paradies bereitstellen, nach dem Menschheit und Dichter streben, um die alte Einheit wiederzugewinnen.“

Lehmanns spröder, ebenso bilder- wie bildungsgesättigter Stil vermochte in der Zwischenkriegszeit jedoch nur einzelne Kritiker wie Kurt Pinthus, Oscar Bie oder Alfred Döblin zu begeistern. Für David Scrase bezeugt gerade dieser Stil, der von einer hypersensiblen Wahrnehmung, einer „Weltgesichtigkeit“ geprägt ist, Lehmanns Zugehörigkeit zur literarischen Moderne. Bereits in den achtziger Jahren begann der in den USA lehrende Germanist mit seiner Lehmann-Biografie, kam aber zunächst über die Schilderung der frühen Lebensjahre nicht hinaus – von der prägenden Exotik-Erfahrung während der ersten drei Lebensjahre in Puerto Cabello (1882-1885) über die schicksalhafte Begegnung des schüchternen Studenten mit dem Lektor Moritz Heimann 1901 bis zu Lehmanns tragischer erster Ehe und den konfliktreichen Jahren unter dem Reformpädagogen Gustav Wyneken in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf.

Dass nach dem Abschluss der Lehmann-Werkausgabe nun auch die erste Lehmann-Biografie erscheint, ist ein Indiz dafür, dass dieser Hauptvertreter der „naturmagischen Schule“ im Zeitalter des Klimawandels wiederentdeckt wird. Überhaupt gibt es wohl wenig eindrucksvollere Beispiele für das Auf und Ab von Autorenkursen an den literarischen Börsen als die Lehmann-Aktie. Denn erst in der Adenauer-Republik wurde der damals schon über 60-Jährige für seine Naturlyrik mit Ehrungen überhäuft; Lehmann galt neben Gottfried Benn als „Nestor der deutschen Lyrik“. Bei dem nach Sinn und Vergessen suchenden Nachkriegspublikum fanden seine dem „Grünen Gott“ gewidmeten Huldigungen endlich Leser:

Weiß geädert, Stachelbeere,
Zeile im großen Gesang.
Wir reichen einander Geisterhände
Und vollenden den Gang.

Auf dem Höhepunkt seines Ruhms angekommen, stellte die folgende Generation Lehmanns Gedichte aber unter Ideologieverdacht. Der junge Peter Rühmkorf etwa höhnte über die „Wiedergeburt des Mythos aus dem Geiste der Kleingärtnerei“. Nach 1968, seinem Todesjahr, erschienen Lehmanns bukolische Idyllen als purer Eskapismus. Dabei lässt sich sein eigentümlich widerständiges Werk im Nazi-Deutschland durchaus als eine, wenn auch harmlose Form des Protestes lesen: Seine Gedichtsammlung „Antwort des Schweigens“, 1935 eher zufällig als beabsichtigt im Berliner Widerstandsverlag von Ernst Niekisch erschienen, wurde von vielen Lesern im „Dritten Reich“ als erlösendes Signal der Verweigerung begrüßt. Nachsichtiger als vielleicht ein deutscher Biograf beurteilt Scrase daher Lehmanns Eintritt in die NSDAP 1933; die Sorge um seine Lehrerstelle in Eckernförde und um seine Familie habe den Dichter zu diesem Schritt getrieben. Die vom Biografen zitierten Tagebucheinträge bezeugen Lehmanns Gewissensqualen und seine Scham gegenüber dem emigrierten jüdischen Freund Werner Kraft.

„Es sät sich mit Striemen mein Inneres, ich bin körperlich nicht frisch, immer quält mich die politische Änderung, die sich vollzogen hat. Stelle ich das Radio an, so fahre ich zurück zu Tode erschreckt vor einer Kasernenhofkommandostimme, die vom Schandfrieden, von Wehrwillen, von Erneuerung schreit. […] Wie muss Werner Kraft leiden! Kaum wagte ich, ihm heute einen Gruß zu schicken“.

David Scrase schildert das Leben des Naturlyrikers mit der für die angelsächsische Biografik typischen wohltuenden Zurückhaltung und Sachlichkeit, doch gerade für die letzten Lebensjahrzehnte Lehmanns hätte man sich gern profiliertere Einschätzungen des Biografen gewünscht. Rundum gelungen erscheint dagegen die Darstellung der ersten Lebenshälfte, vor allem die nachhaltige Prägung durch die Konflikte im Elternhaus zwischen einem Tunichtgut von Vater, der schon früh die Familie im Stich ließ, und einer dominanten Mutter. Es waren nicht zuletzt deren moralische Appelle, die schon den jungen Wilhelm Lehmann in die Wälder flüchten ließen.

Titelbild

David Scrase: Wilhelm Lehmann. Biographie.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Lehmann.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
440 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783835309173

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