Fünfziger Jahre – Poesie

Zu einem Lesebuch mit früher Lyrik und Prosa des Dichters Heinz Piontek

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor 1960 und dann zunehmend in den Jahren danach erschienen mehrere Lyrikanthologien, in denen Herausgeber wie Wolfgang Weyrauch, Hans Bender, Horst Bingel, Hans Magnus Enzensberger und Hilde Domin, um nur einige zu nennen, den Versuch wagten, einen Überblick über die Lyrik nach 1945 zu geben und ihren Standort innerhalb der europäischen und außereuropäischen Lyrik zu bestimmen. Namen, die in den Nachkriegsjahren bereits berühmt waren, Bertolt Brecht, Gottfried Benn, Marie Luise Kaschnitz zum Beispiel., andere Namen, die damals aufhorchen ließen und später weit über Deutschland hinaus bekannt wurden, wie Paul Celan, Nelly Sachs, Ingeborg Bachmann oder Günter Grass, waren in diesen ersten Anthologien vertreten. Auch Texte von Karl Krolow, Hans Magnus Enzensberger, Peter Rühmkorf und Günter Eich, von Autoren, die in den Jahrzehnten nach 1960 eine bedeutsame Rolle in der deutschsprachigen Literatur spielen sollten, wurden in den Sammlungen abgedruckt und so bekannt gemacht. Wer aber erinnert sich noch an Lyriker wie – eine Auswahl – Anise Koltz, Hertha Kräftner, Arno Reinfrank oder Carl Guesmer, die damals für durchaus anthologienwürdig befunden wurden?

Auch um Heinz Piontek, einen Lyriker, der in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in vielen Sammelwerken und Schullesebüchern vertreten war, ist es seit einigen Jahrzehnten still geworden. Er wurde 1925 in Oberschlesien geboren, geriet nach den Wirrnissen des Zweiten Weltkriegs nach Lauingen an der Donau, wohnte später in Dillingen und dann in München. Er starb 2003 in einem Pflegeheim bei Passau.

Mit zwei Gedichtbänden wurde er bekannt: „Die Furt“ erschien 1952; ein Jahr später der Lyrikband „Die Rauchfahne“. Beide Gedichtbände ernteten nach ihrem Erscheinen Lob und Anerkennung. Piontek erhielt für seine frühen Gedichte, aber auch für seine spätere Lyrik, für seine Kurzgeschichten, Prosaskizzen, Romane, autobiografischen Erzählungen, Hörspiele und Übersetzungen (John Keats und Joseph Conrad) Preise und Auszeichnungen. Der Begriff „Erzählgedicht“ wurde von ihm geprägt und in der Anthologie „Neue deutsche Erzählgedichte“ mit zahlreichen Beispielen moderner Lyrik erläutert. 1976 wurde Piontek mit dem Büchner-Preis geehrt, zweifellos ein Höhepunkt im Schaffen des Dichters. Allerdings hatte er da seinen literarischen Zenit bereits überschritten. In den 1980er- und 1990er-Jahren spielte er in der literarischen Szene keine große Rolle mehr.

Der Wolff Verlag hat jetzt einen Band vorgelegt, der den Versuch macht, Heinz Piontek aus der Vergessenheit hervorzuholen und noch einmal in das Blickfeld interessierter Leser zu rücken. Die beiden Herausgeber Anton Hirner und Hartwig Wiedow, ausgewiesene Piontek-Kenner, haben für den Sammelband vor allem Gedichte, Kurzgeschichten und Prosaskizzen aus den frühen Jahren des Schriftstellers ausgewählt. Offensichtlich wollen sie damit an seine ehemaligen Erfolge und seinen Bekanntheitsgrad bis weit in die sechziger Jahre hinein anknüpfen.

Als der junge Schriftsteller schon wenige Jahre nach Kriegsende seine ersten Gedichte veröffentlichte, ließ er aufhorchen. Seine Texte waren nicht radikal neu. Viele Gedichte reihten sich ein in die Tradition der Naturlyrik, die in den Nachkriegsjahren eine große Leserschaft hatte. Aber sie waren modern in anderer Hinsicht: In vielen Texten verarbeitete Piontek seine Erfahrungen im Krieg, die schlimmen Erlebnisse der Flucht aus dem Osten und die Not und die Schwierigkeiten der so genannten Aufbaujahre. Zeitgenössisch waren Sprache und Ton der Gedichte, voller nicht immer leicht zugänglicher, aber auch nicht hermetisch verschlossener Bilder und Metaphern, expressiv gelegentlich und voller Pathos, aber auch lakonisch und nüchtern-sachlich, konzentriert auf das Sprachbild im Zentrum des Textes.

Zurzeit, so scheint es, gibt es eine Nachfrage nach Gedichten von Autoren aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. So wurden Texte von Wilhelm Lehmann, dessen Lyrik in den Nachkriegsjahren besonders populär war, vor kurzem neu herausgegeben. Oskar Loerkes „Sämtliche Gedichte“, ebenfalls erst vor wenigen Monaten neu erschienen, hat Lutz Seiler mit einer Einleitung versehen und damit in das Blickfeld der jüngeren (Schriftsteller-) Generation gerückt. Auch von Gedichten von Hans Bender, dem großen Anthologisten und „Akzente“-Herausgeber, gibt es eine Neuausgabe, von Martin Walser mit freundlichen Worten rezensiert. Gleichzeitig erschien in einer Wochenzeitung ein Artikel zur zeitgenössischen Lyrik, in der von deren literarischer „Impotenz“ die Rede ist, von „Möchtegern-Dichtung“ und „plattem Zeug“, von dem „armseligen Gedöns“ vieler zeitgenössischer Gedichte und ihrer inhaltlichen und sprachlichen „Winzigkeit“.

Aus diesen selektiven Anmerkungen zur zeitgenössischen lyrischen Szene kann keine Tendenz zurück zum Naturgedicht der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts herausgelesen werden. Vielleicht aber kann – und auch das nur mit Fragezeichen – ein gewisses Interesse an einer Art des lyrischen Schreibens konstatiert werden, das vor fünfzig Jahren manchmal klischeehaft mit „Naturlyrik“ etikettiert wurde. Heinz Piontek sollte es von daher mit seinen Texten, die in dem neuen Band versammelt sind, nicht überaus schwer haben, eine Leserschaft zu finden. Seine Lyrik und Prosa passen – vordergründig – in diesen Rahmen von Neuveröffentlichungen hinein. Dennoch bestehen Zweifel, ob dieses „Piontek-Projekt“ funktioniert und es dem Buch gelingt, die Aufmerksamkeit der literarischen Öffentlichkeit zu gewinnen und dem Dichter eine (neue) Leserschaft zu erschließen.

Allein der Titel des Buches weist Piontek als einen Dichter aus, der fremd und „exotisch innerlich“ daherkommt. „Ich höre mich tief in das Lautlose ein“ ist eine Zeile aus dem Gedicht „Bootsfahrt“. Das lyrische Ich stellt sich als jemanden dar, der das Verborgene hört, das Unzugängliche wahrnimmt, Zeichen und Markierungen dort entdeckt, wo sie anderen verborgen bleiben: der Dichter als Mystiker, als „Seher“, der um die Vergeblichkeit des Lebens und seine dunklen Seiten, die „verschollenen Fahrten“, weiß und die Wahrheit hinter der Oberfläche des Lebens erkennt.

Es ist diese mit übergeordnetem Sinn beladene lyrische Sprache, die den Zugang zu Pionteks Werk erschwert. Viele seiner Texte deuten immer auch eine andere Sinnebene an, verharren nicht beim vordergründigen Sprachbild, sondern zielen auf das Hintergründige. Die Texte sind damit auf verstörende Weise doppeldeutig. Das macht sie interessant, überfrachtet sie gelegentlich aber auch mit Bedeutung. Es scheint dann, als ob der Autor seiner Sprache weniger zutraute, als sie leistet. Unnötigerweise – dieser Eindruck entsteht beim Lesen – lädt er die wirkungsvollen Bilder, die ihm gelingen, mit mehrdeutigen Wörtern auf, die das Konkrete abstrakt machen und das Sinnliche existentiell überhöhen.

Diese andere Ebene ist manchmal religiös konnotiert. So schreibt er im Gedicht „Krähen“ von seinen „Winterträumen“ und dem „Gram der verödeten Welt“ beim Anblick und dem Geschrei der Vögel; er wehrt sich gegen das „schwarze Bedrängen“, das ihn zu überwältigen scheint, und zieht Trost aus einer fast religiösen Zuversicht: „Atemlos und beklommen / horche ich himmelwärts“. In vielen seiner Gedichte, auch in seinen Erzählungen ist diese Grundüberzeugung, den dunkleren Seiten des Lebens, seinen Gefährdungen und Brüchen nicht hilflos ausgeliefert zu sein, spürbar. Piontek hat sich zu seinem Christentum bekannt; seine Religiosität zeigt sich in seinen Versen.

Wirkungsvoll sind seine Texte, die oft gereimt sind, immer dann, wenn sie ganz „bei sich“ sind, wenn die Sprachbilder nicht durch eine Reflexion des Ich mit zusätzlicher Bedeutung aufgebläht werden, wenn der Dichter sich auf die sprachliche Wirkung seiner Bilder verlässt. Im Text „Fischerhütte“ gelingt ihm das großartig. Mit einfachen, aber poetischen Bildern beschreibt er in den beiden ersten Strophen das Innere einer Fischerhütte. Am Ende heißt es dann: „Hinterm Herd der Kienholzstapel, / warm und dünstig ist die Enge – / und im Dunkel die Geschichten / wunderbarer Fänge.“ In solchen Zeilen findet Piontek einen lakonischen Ton, der sich dem Leser einprägt. „Doch mehr noch als die Leichtigkeit und Schönheit der Formulierung“, schreibt er in einem Text zu seiner Dichtung, „schätze ich die sparsame, unaufdringliche Geste, das Bündige und Lakonische, die bildliche Klarheit.“

Viele von Pionteks frühen Texten sind von Naturbildern bestimmt. Niemals aber sind sie auf plumpe Art idyllisch und wirklichkeitsfremd. Die Schrecknisse der Flucht und der Vertreibung nach dem Krieg werden in seinen Gedichten und Erzählungen erlebbar. Nicht ohne Grund hat ein Gedicht wie „Die Verstreuten“ Eingang in Anthologien und zahlreiche Schullesebücher gefunden. Der Gedichttitel als Metapher für die Menschen auf der Flucht vor Krieg lässt den Leser nicht so schnell los. Und die Anfangsverse „Wir haben Wind unter den Sohlen. / Wir haben Wind im Nacken.“ und Zeilen wie „Des Nachbarn Stimme fing sich in Netzen Schnees.“ oder „Zerstoßenes Blech und Kälte: das Land der Geschlagenen.“ oder „Und als wir einzeln eine getroffene Brücke passierten, / waren viele im Eis zu sehen, grün und wie schwebend.“ zeigen Pionteks Sprachkraft und weisen ihn als einen Lyriker aus, der in seinen gelungenen Texten Wesentliches seiner Zeit in Sprache geformt und Zeiten überdauernd ausgedrückt hat.

Es ist, wenn man zurückblickt, nicht verwunderlich, dass Pionteks Verse und Gedichte, auch seine unspektakulären und ganz dem Nachkriegserzählstil verhafteten Kurzgeschichten die 1960er-Jahre nicht unbeschädigt überstanden haben. Der Anfangserfolg konnte ihm, dem „Sprachbild-Sucher“, nicht treu bleiben. Der Literaturkritiker Harald Gröhler spricht in seinem informativen Geleitwort vom „Fall“, vom „Absturz“ und von der „beispiellosen Demontage“ des Lyrikers und Erzählers Heinz Piontek. Sein Dichten war in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts – schon die Verleihung des Büchner-Preises wurde teilweise heftig kritisiert – regelrecht aus der Zeit herausgefallen. In den Jahren nach 1968 war eine andere Art zu schreiben gefragt. Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler sollten sich politisch äußern und positionieren. Die Verweigerung des politischen Engagements, ein Rückzug in die dichterische Einsamkeit und Kontemplation wurden, von einem Teil der Öffentlichkeit wenigstens, scharf abgelehnt.

Dieses Sich-Einmischen in die Tagesaktualität und Eingreifen in die Zeitströmungen mittels Sprache konnte und wollte Heinz Piontek nicht mitmachen. Gegen das, was er „Zeitgedicht“ nannte, hegte er großes Misstrauen. „Dieses lyrische Muster“, schreibt er, „verführt leicht zur Effekthascherei, zur Reportage, zur poetischen Wochenschau. Doch in glänzend geschnittenen Sensationen zu schwelgen, das hatte ich nicht im Sinn.“ Piontek hat sich dem, was modisch-zeitgenössisch daherkam, verweigert. So war er zum Beispiel kein Mitglied der Gruppe 47 und gehörte keiner anderen literarischen Gruppierung an. Diese Absonderung gilt natürlich auch von der anderen Seite her. Die einflussreiche Literaturzeitschrift „Akzente“ hat ab Mitte der sechziger Jahre keinen seiner Texte mehr gedruckt. Und Wagenbachs nicht weniger einflussreiche „Tintenfisch“-Reihe führt in den Jahrbüchern ab 1968 seinen Namen nicht mehr auf. In Anthologien der achtziger und neunziger Jahre erscheinen kaum mehr Gedichte von ihm.

Das Buch „Ich höre mich tief in das Lautlose ein“ ist für den, der an jüngerer Literaturgeschichte interessiert ist, ein Dokument dafür, wie Schreiben vor 1968 durch das, was dann geschah, mit einem Mal obsolet und aus dem Blickfeld der literarischen Öffentlichkeit verdrängt wurde. Das Buch regt zu Fragen an, wie und warum es dazu kommen konnte. In die Kritik rücken damit auch Texte, die damals in der Literaturszene Furore machten, z. B. das „Kursbuch“ 15 vom November 1968, in dem in einem „Autodafé“ betitelten Beiblatt Walter Boehlich, nicht unbedeutend damals, den Tod der bürgerlichen Kritik und der bürgerlichen Literatur „feststellte“ und Enzensberger, mit modischem Vokabular bestens ausgerüstet, über „Gemeinplätze, die neueste Literatur betreffend“ schrieb.

Das Piontek-Buch empfiehlt sich aber auch aus einem wichtigeren Grund. Mehrere von Pionteks Gedichten verdienen es, nicht vergessen zu werden. Immer wieder gelingen ihm Verszeilen, die mühelos fünfzig Jahre zu überdauern scheinen. Ein „abziehendes Wetter“ in Ostia schildert er so: „Gesprungener Himmel. / Geborstenes Meer. / Riss vom Zenit herab: / Zwischen der strahlenden / und der gespenstischen Wand. / Heillose sandgraue See. / See aus geläutertem Blau. / Sonnensegel-Quartier. / Totenquartier. / Herzschlucht, / geklammert von Blitzen.“

Titelbild

Heinz Piontek: Ich höre mich tief in das Lautlose ein. Frühe Lyrik und Prosa.
Wolff Verlag, Berlin 2011.
191 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783941461055

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